Der Fromme Dieb
»Aber könnte sie nicht aus Mitgefühl mit einem geplünderten Kloster den Wunsch verspürt haben, dort zu wirken? Auf Eure Großmut vertrauend, daß Ihr diesen Wunsch respektiert und uns zu den bereits gegebenen Spenden auch noch die Kraft und die Gnade zukommen laßt, die sie uns gewähren könnte? Denn sicher ist, daß sie Euer Kloster mit meinen Leuten verlassen und mit ihnen den Weg nach Ramsey angetreten hat. Warum hätte sie das getan, wenn sie nicht den Wunsch gehabt hätte, Euch zu verlassen, um bei uns zu weilen?«
»Noch ist nicht erwiesen«, verkündete Prior Robert, auf die sachlichen Fakten des Falles zurückgreifend, »daß nicht doch Menschen an ihrem Verschwinden beteiligt waren – sündige Menschen, denn sollte es sich so abgespielt haben, handelt es sich um gotteslästerlichen Diebstahl. Unser Abt in Shrewsbury hat angeordnet, alle Männer ausfindig zu machen, die, als die Fluten stiegen, an der Bergung der Klosterschätze beteiligt waren. Noch wissen wir nicht, was bisher aufgedeckt worden ist, welche Aussagen gemacht wurden. Vielleicht ist die Wahrheit dort inzwischen bekannt. Hier jedenfalls ist sie es nicht.«
Der Graf hatte sich zwischen den zornigen Kämpfern behaglich zurückgelehnt und sich selbst von jeder Verantwortung losgesprochen, außer der, in seinem Saal Frieden und Harmonie zu wahren. Er hatte Verständnis für beide Parteien und war bemüht, beiden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
»Hochwürden«, sagte er sanft, »wie ich höre, beabsichtigt Ihr, in jedem Falle nach Shrewsbury zurückzukehren. Was hindert Euch daran, alle Auseinandersetzungen so lange aufzuschieben, bis Ihr dort angelangt seid und hört, was in Eurer Abwesenheit ans Licht gekommen ist? Vielleicht ist dann schon alles geklärt. Und wenn nicht, wenn sich noch immer keine menschliche Hand als beteiligt erwiesen hat, erst dann ist es an der Zeit, ein sachliches Urteil in Betracht zu ziehen. Jetzt aber noch nicht!«
Mit insgeheimer Erleichterung, aber ohne große Begeisterung nahmen beide den Vorschlag des Grafen an, ihre Feindseligkeiten aufzuschieben.
»Ihr habt recht«, sagte Prior Robert, wenn auch etwas frostig, »wir wollen nicht voreilig handeln. Man wird dort alles Menschenmögliche getan haben, um die Wahrheit ausfindig zu machen. Wir sollten warten, bis wir Bescheid wissen.«
»Ich habe«, beharrte Herluin, »während ich mit Euch dort weilte, die Heilige um Hilfe in unserem Elend angefleht. Es ist sicherlich denkbar, daß sie es erhörte und Erbarmen mit uns hatte. Aber Ihr habt recht, jetzt ist Geduld geboten, bis wir mehr über die Angelegenheit erfahren.«
Etwas List ist schon dabei, dachte Hugh, zufrieden mit seiner Rolle als Zuschauer mit dem besten Blick auf das Geplänkel, aber keine Arglist. Der Graf zerstreut sich in einer toten Jahreszeit, zudem sind seine Frauen nicht da, aber er dämpft den Sturm ebenso geschickt, wie er ihn heraufbeschworen hat.
Was kann er Besseres tun, um den Abend angenehm zu verbringen und seine Gäste zu unterhalten? Jedenfalls einen von ihnen, gestand er sich ein wenig schuldbewußt ein, und dann kam ihm in den Sinn, daß er die beiden ehrgeizigen Geistlichen noch ohne Blutvergießen zurück nach Shrewsbury begleiten mußte.
»Da ist noch eine Kleinigkeit, die unserer Aufmerksamkeit entgangen ist«, sagte der Graf, fast entschuldigend. »Es wäre mir zuwider, weitere Schwierigkeiten zu bereiten, aber ich muß einen bestimmten Gedankengang logisch zu Ende führen.
Wenn die heilige Winifred tatsächlich ihren Aufbruch mit dem Wagen nach Ramsey geplant und verfügt hat, und wenn die Pläne einer Heiligen nicht von Menschen durchkreuzt werden können, dann muß sie sicher auch alles gewollt haben, was nachher geschah… den Überfall der Wegelagerer, den Diebstahl des Wagens und des Gespanns, den Verlust der Ladung und damit auch ihres Reliquienschreins, den meine Pächter fanden und zu mir brachten. Heißt das nicht letzten Endes, daß sie jetzt dort ist, wohin sie gehört? Denn hätte sie beabsichtigt, nach Ramsey zu gehen, so hätte es keinen Überfall gegeben, sie wäre ohne Behinderung dort angelangt.
Aber statt dessen begab sie sich in meine Obhut. Unmöglich also, vom ersten Schritt zu behaupten, es sei ihre Absicht gewesen, und vom zweiten das Gegenteil: Das würde jeder Logik entbehren.«
Beide Tischnachbarn starrten ihn in höchster Besorgnis an, dabei außerstande, auch nur ein Wort hervorzubringen, ein Umstand, der allein schon einen kleinen Sieg
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