Der Fromme Dieb
aber laß ihn wissen, was ihn erwartet. Ich für mein Teil will mir die Beine in der Stadt vertreten, wenn ich schon einmal die Gelegenheit dazu habe. Ich werde meinen Mund geschlossen halten.«
»Er ist nicht mein Tutilo«, wiederholte sie, fast abwesend, immer noch nachdenklich.
»Aber an der Art, wie er deinem Blick ausweicht, könnte er es leicht sein, wenn du wolltest«, erwiderte Bénezet mit einem Grinsen. »Doch laß ihn nur schmoren, wenn das dein Wunsch ist.«
Es war nicht ihr Wunsch, und das wußte er nur zu gut. Noch vor Ende der Vesper, wenn nicht schon früher, würde Tutilo wissen, was ihm bevorstand.
Auf dem Weg zum Abendessen mit Abt Radulfus und dem vornehmen Mitbewohner im Gästehaus traf Subprior Herluin, den diese Einladung angenehm überrascht hatte, im Hof einen demütigen Bittsteller in Gestalt von Tutilo, der, ganz Pflicht und Dienstbeflissenheit, um die Erlaubnis bat, Lady Donata in Longner aufsuchen zu dürfen.
»Vater, die Dame läßt fragen, ob ich zu ihr kommen und für sie spielen darf, wie ich es schon tat. Habe ich Eure Erlaubnis dazu?«
Herluins Gedanken kreisten mehr um das bevorstehende Essen und den Vortrag seiner Argumente in der Angelegenheit der heiligen Winifred. Kein Wort von dem üblen Verdacht und der bevorstehenden Ankunft eines Augenzeugen war an sein Ohr gedrungen.
Ohne sich anstrengen zu müssen, erhielt Tutilo seine Erlaubnis. Er entfernte sich durchs Torhaus und ging den Weg an der Abteivorstadt entlang, damit jemand, der ihn beobachtete oder zufällig sah, feststellen konnte, daß er die richtige Richtung einschlug. Er ging nicht weit und schon gar nicht bis nach Longner, aber weit genug, um außer Reichweite des Klosters zu sein, wenn unmittelbare Gefahr drohen würde.
Er war nicht so töricht zu glauben, daß die Gefahr vorbei wäre, wenn Aldhelm unverrichteterdinge wieder heimzog, doch dem, was dann folgte, würde er sich zu stellen wissen. Er hatte großes Vertrauen in seinen Einfallsreichtum.
Auf vielen Umwegen gelangte die Nachricht auch an Bruder Jeromes Ohr, daß dem Vogel, den er mit all seinen dürftigen Kräften hatte einfangen wollen, die Flucht in sichere Gefilde gelungen war. Jerome wand sich vor Zorn und Verbitterung.
Ganz offensichtlich gab es keine Gerechtigkeit, nicht einmal von Seiten des Himmels. Der Teufel war allzu erfolgreich in seiner Gier nach einer eigenen Gerechtigkeit.
Jerome mußte wohl am Saft seiner eigenen Galle erkrankt sein, denn er war für den Rest des Abends verschwunden.
Nicht, daß ihn jemand vermißte. Prior Robert bemerkte seinen Schatten nur dann, wenn er einen Auftrag für ihn hatte oder wenn er herausbekommen wollte, ob jemand an seiner Würde kratzte. Die meisten Brüder waren sich deshalb Jeromes Gegenwart immer achtsam bewußt, atmeten aber auf, wenn dieser einmal nicht anwesend war, dankten und vergaßen ihn; und die Novizen und Schuljungen mieden seine Nähe, wenn es irgendwie möglich war. Erst bei der Komplet löste sein Nichterscheinen Befremden, Getuschel und schließlich Unbehagen aus. Denn er war unerbittlich, was die Einhaltung der Ordensregeln betraf. Subprior Richard, eine gütige Seele, selbst gegen jene, denen er nicht sonderlich gewogen war, wurde unruhig, machte sich auf die Suche und fand ihn im Dormitorium auf seinem Bett, bleich wie ein Leintuch und am ganzen Leib zitternd, frierend, grau und verhärmt.
Nun litt er ohnehin die meiste Zeit an Magendrücken oder sonstigen Verstimmungen, und so war niemand besonders erstaunt, es sei denn wegen der Heftigkeit seines Anfalls.
Bruder Cadfael brachte ihm ein wärmendes Getränk und eine Arznei zur Beruhigung des Magens, und die Brüder ließen ihn seine Unpäßlichkeit ausschlafen.
Das war die letzte gelinde Überraschung des Abends, denn die, die noch bevorstand und sich irgendwann nach Mitternacht ereignen sollte, konnte gewiß nicht als gelinde bezeichnet werden. Die halbe Stunde nach der Komplet schien in völliger Enttäuschung zu enden, denn der junge Mann vom Upton-Lehngut, der so ungeduldig erwartete Zeuge, der die Wahrheit ans Licht bringen sollte, erschien nicht.
Die Gäste des Abts hatten sich diskret zurückgezogen. Rémy und Graf Robert waren gemeinsam zum Gästehaus aufgebrochen, wo Bénezet, von seinem Ausflug in die Stadt zurückgekehrt, und auch die beiden Knappen des Grafen sich bereithielten, um ihren Herren aufzuwarten. Daalny löste und bürstete ihr langes schwarzes Haar in den Frauengemächern und lauschte dem Geschwätz
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