Der Fromme Dieb
einer Kaufmannswitwe aus Wem, die auf dem Weg nach Wenlock zur Niederkunft ihrer Tochter hier ein Nachtquartier gefunden hatte. Alles innerhalb der Klostermauern bereitete sich auf die Nachtruhe vor.
Aldhelm jedoch erschien nicht, und auch Tutilo kehrte von seinem Besuch bei der Lady von Longner nicht zurück.
Da die Ordensregeln streng eingehalten werden mußten, ganz gleich, wer erkrankt war oder seine Pflichten versäumte, ertönte die Glocke zur Mette im Dormitorium so wie stets um Mitternacht, und die Brüder erhoben sich und gingen schlaftrunken die Nachttreppe hinunter in die Kirche. Cadfael, der buchstäblich überall und bei jeder Gelegenheit schlafen konnte, genoß stets die besondere Feierlichkeit der Nachtmessen, die Unermeßlichkeit der verdunkelten Kuppel, dort oben, wo das Kerzenlicht verebbte und sich in luftige Fernen verlor, die sich bis in die Unendlichkeit ausdehnen mochten – oder auch nicht. Die Stille in den mitternächtlichen Stunden fügte eine kosmische Dimension hinzu, und das leiseste Geräusch, das die vorgeschriebenen Laute der Andacht unterbrach, schien die Fundamente der Erde zu erschüttern. Etwa solche Geräusche, so dachte er, in der Meditations- und Gebetspause zwischen Mette und Laudes, wie jetzt das schwache, kurze Knirschen der Angeln der Südtür.
Sein Gehör war schärfer als das der meisten anderen und noch nicht vom Alter beeinträchtigt; sicher hatten es nur wenige gehört. Und doch war jemand ganz leise durch die Tür getreten, stand jetzt reglos auf der Schwelle und zögerte, zum Chor zu gehen und etwa den zweiten Gottesdienst des Tages zu unterbrechen. Wenige Augenblicke später gesellte sich eine zarte und atemlose Stimme sehr sanft den Gebeten hinzu.
Als sie nach Ende der Laudes ihre Chorstühle verließen und sich der Nachttreppe näherten, um in ihre Betten zurückzukehren, erhob sich eine zierliche Gestalt in Ordenstracht von den Knien, um ihnen entgegenzutreten; sie bewegte sich langsam, aber mit ergebener Entschlossenheit auf das schwache Licht zu, wie jemand, der auf einen rauhen Empfang gefaßt und doch willens ist, ihn durchzustehen und zu überleben. Tutilos Gewand glänzte auf den Schultern vom Wasser des sanften und geräuschlosen Frühlingsregen, der etwa gegen Mitte des Abends eingesetzt hatte, seine Locken waren feucht und zerzaust, und die Hand, die über die Stirn fuhr, um die Locken zurückzustreichen, ließ eine dunkle Spur zurück. Seine Augen waren weit aufgerissen und starr vor Entsetzen, und sein Gesicht war an den Stellen, wo seine Hand es nicht besudelt hatte, totenbleich.
Bei Tutilos Anblick löste sich Herluin von Prior Roberts Seite, wobei er einen scharfen, dröhnenden Laut des Zorns und der Verwirrung ausstieß, doch bevor er wieder Luft schöpfen und die heftigen Vorwürfe äußern konnte, mit denen er ihn zweifellos zu überhäufen gedachte, hatte Tutilo seinerseits Worte gefunden, wenige nur, aber energisch genug, um jedem anderen zuvorzukommen.
»Vater, ich bedauere, so spät erst zu erscheinen, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich war zunächst gezwungen, in die Stadt zu gehen, zur Burg, wohin solche Nachrichten gehören, und so habe ich es auch getan. Vater, auf meinem Weg von der Fähre zurück durch den Wald, bin ich über einen toten Mann gestolpert. Ermordet… Vater«, sagte er und zeigte die Hand, die seine Stirn besudelt hatte, »ich sage, was ich weiß, denn es war selbst im Stockfinsteren deutlich genug. Ich habe ihn berührt… sein Kopf ist zerschmettert!«
6. Kapitel
Als er im Licht seine Hände erblickte, zuckte er zusammen und hielt sie von sich fern, um sie nicht mit anderen Teilen seines Körpers oder seines Gewandes in Berührung kommen zu lassen. Seine Rechte war auf dem Ballen und zwischen den Fingern mit trocknendem Blut verschmiert, und die Linke war an den Fingerkuppen mit Tupfern bedeckt, als hätte er besudelte Kleider abgetastet. Er wollte oder konnte keinen Bericht abgeben, bis er die Hände gesäubert hatte. Er rieb sie so heftig gegeneinander, als wollte er seine beschmutzte Haut zusammen mit dem Blut abscheuern. Als er dann endlich im Empfangszimmer des Abtes war – nur mit Radulfus, Prior Robert, Herluin und Bruder Cadfael, auf dessen Anwesenheit er bestanden hatte – , holte er tief Luft und begann mit seinem Bericht.
»Ich kam von der Fähre und ging über den Pfad durch den Wald, und da, wo die Bäume am dichtesten stehen, bin ich über den Toten gestolpert. Er lag mit den Beinen quer
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