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Der Fromme Dieb

Der Fromme Dieb

Titel: Der Fromme Dieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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haben und jetzt tief schlafen! – sollte heute abend ins Kloster kommen, um den unbekannten Mann herauszudeuten. Den Brüdern hat man noch nichts gesagt, nur Radulfus, Prior Robert, Hugh und ich wußten davon, läßt man Cynrics Jungen einmal beiseite, der seine Botengänge getreulich ausführt, aber kaum versteht, was er überbringt, um seine Botschaften, sobald er sie abgegeben und seine Belohnung dafür erhalten hat, wieder zu vergessen.
    Auch Herluin hat man nichts erzählt, und ich bin mir sicher, daß er auch nichts wußte. Und, soweit mir bekannt ist, hatte auch Tutilo keine Ahnung. Dennoch ist es merkwürdig, daß er am selben Abend nach Longner gerufen worden sein soll. Hat man wirklich nach ihm geschickt? Diese Frage kann leicht bewiesen oder widerlegt werden. Angenommen, er hatte doch irgendwie von Aldhelms Kommen erfahren, so konnte er durch sein Weggehen die Gegenüberstellung nicht verhindern, sondern nur kurzfristig verzögern, denn letzten Endes mußte er ja irgendwann wieder auftauchen. Ja, aber angenommen er taucht wieder auf, und Aldhelm kommt nicht. Und zwar nicht nur an jenem Abend, sondern überhaupt nie mehr.
    Alle diese Einzelheiten bauten sich Stück für Stück zu einem ungeheueren Szenarium auf, an das er indes nicht glauben wollte. Schon den bloßen Gedanken daran wollte er beiseite schieben, bis er den Ort der gräßlichen Tat und das Opfer, das sie über sich hatte ergehen lassen müssen, in Augenschein genommen hatte.
    Das trübe Morgenlicht, das widerwillig durch die fast kahlen Bäume und das Gewirr des Unterholzes hindurchsickerte, erreichte den schmalen Pfad nur spärlich – ein feuchter, brauner Streifen aus faulendem Laub und verstreuten Steinen, auf dem sich die Schatten vereinzelter schlanker Bäume wie die Sprossen einer Leiter abzeichneten. Die Sonne war noch nicht durch die Wolkendecke im Osten gedrungen, und das Licht war farblos und unbestimmt vom Regen des Vortags, aber doch klar genug, um das zu zeigen, was Tutilo im Dunkeln hatte stolpern lassen. Die Leiche lag, wie er berichtet hatte, quer über dem Pfad, aber nicht auf dem Bauch, sondern eher auf der rechten Schulter, wobei der rechte Arm deutlich nach hinten gebogen und der linke wie tastend vorgestreckt war, der Ärmel des groben, mit einer Kapuze versehenen Umhangs, den die Leiche trug, bis zum Ellenbogen hochgeschoben. Die Kapuze war, nach der Art zu schließen, wie sie sich im Nacken bauschte, nach hinten gerutscht, als der Mann zu Boden stürzte. Die rechte Wange hatte sich dabei ins feuchte Laub gedrückt. Die sichtbare linke Kopfseite war ein dunkler Klumpen getrockneten Blutes, ein verkrustetes Etwas, auf das Tutilo, entsetzt und angewidert, am Abend zuvor die Hand gelegt hatte.
    Er wirkte jetzt etwas gefaßter und stand ein wenig abseits am Rande eines Gebüsches und starrte, die Lider halb über das matte Gold seiner Augen gesenkt, unverwandt auf das, was die Nacht vor ihm verborgen hatte. Tutilo preßte die Lippen fest zusammen, das einzige, was verriet, wieviel Kraft es ihn kostete, sich still und ruhig zu verhalten. Er hatte sich, wohl nach einer schlaflosen Nacht, früh erhoben, um sie an diesen Ort im dichtesten Teil des Waldes zu führen. Außer dem geflüsterten Morgengruß hatte er kein Wort gesprochen und stumm jede an ihn gerichtete Anweisung befolgt. Kein Wunder, wenn sein gestriger Bericht der Wahrheit entsprechen sollte, und vielleicht noch weniger verwunderlich, wenn er heute gezwungen sein sollte, an einen Schauplatz zurückzukehren, über den er nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte; nicht gegenüber dem Gesetz, nicht gegenüber den Vorgesetzten seines Ordens, den er aus freiem Willen, auf eigenen Wunsch gewählt hatte.
    Das Gesicht, halb in den Morast gepreßt, war größtenteils unversehrt geblieben. Cadfael kniete dicht neben dem zertrümmerten Schädel nieder und schob vorsichtig eine Hand unter die rechte Wange, um das Gesicht ein wenig anzuheben und freizulegen.
    »Kennt Ihr ihn?« fragte Hugh, der neben Cadfael stand. Die Frage, an Tutilo gerichtet, verlangte eine klare Antwort, doch der Befragte versuchte gar nicht, ihr auszuweichen, sondern erwiderte mit ruhiger, wachsamer Stimme:
    »Ich kenne ihn nicht mit Namen.«
    Verwunderlich, aber wahrscheinlich wahr; diese wenigen Augenblicke am Ende eines chaotischen Abends hatten keiner Namen bedurft. Tutilo war für Aldhelm genauso namenlos geblieben wie Aldhelm für ihn.
    »Aber Ihr kennt den Mann?«
    »Ich habe ihn einmal gesehen«,

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