Der Fromme Dieb
über den Weg, und ich fiel neben ihn hin. Es war stockfinster, aber man konnte dem Pfad durch den blassen Streifen am Himmel zwischen den Zweigen folgen. Am Boden aber war nichts als Finsternis. Ich tastete neben mich und fühlte die Rundung eines Knies. Ich glaubte erst, der Mann sei betrunken, aber er gab keinen Laut von sich und rührte sich nicht. Ich tastete vom Oberschenkel bis zur Hüfte und beugte mich über die Stelle, wo ich sein Gesicht vermutete, aber nichts, kein Atem, kein Lebenszeichen. Ich legte meine Hand auf seinen zertrümmerten Schädel, und – Gott sei mir gnädig – da wußte ich, daß er tot war. Und nicht durch irgendein Mißgeschick! Ich fühlte, daß der Schädel gespalten war.«
»Habt Ihr irgendeine Ahnung, wer dieser Mann sein könnte?« fragte der Abt mit ruhiger und sanfter Stimme.
»Nein, Vater, es war viel zu dunkel. Ohne Fackel oder Laterne war nichts zu erkennen. Und zuerst konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Aber dann fiel mir ein, daß es Sache des Sheriffs ist und daß die Kirche vom Umgang mit allen Bluttaten ferngehalten werden soll. Darum bin ich zuerst in die Stadt gelaufen, um in der Burg Bericht zu erstatten, und der Herr Beringar hat bis zum Tagesanbruch Wachleute an der Stelle postiert. Was ich berichten konnte, habe ich berichtet, das übrige muß bis zum Tageslicht warten. Und, Vater, er trug mir auf – der Sheriff trug mir auf – , Euch zu bitten, daß auch Bruder Cadfael unterrichtet werde, und bei Tagesanbruch, wenn Ihr erlaubt, soll ich Bruder Cadfael an diesen Ort führen und den Sheriff dort treffen. Deshalb habe ich darum ersucht, daß Bruder Cadfael hier anwesend ist. Ich will ihm morgen gern den Ort zeigen, und wenn er mich jetzt etwas fragen möchte, will ich ihm antworten, so gut ich kann. Er sagte – Hugh Beringar sagte – , daß Bruder Cadfael etwas von Wunden versteht, weil er so viele Jahre Soldat war.«
Er war inzwischen völlig außer Atem und fast am Ende seiner Kräfte, stieß aber einen Seufzer der Erleichterung aus, war ihm nun doch die schwere Last von den Schultern genommen.
»Wenn der Ort bewacht ist«, sagte Cadfael, dem fragenden Blick des Abtes begegnend, »so kann das, was wir dort erfahren können, getrost bis Tagesanbruch warten.
Ich denke, wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Allzu leicht wird ein falscher Weg eingeschlagen. Nur eines möchte ich Euch fragen, Tutilo: Zu welcher Stunde habt Ihr Longner verlassen?«
Tutilo zuckte zusammen, zauderte und nahm sich auffallend lange Bedenkzeit, bevor er antwortete: »Es war spät, später als die Stunde der Komplet, als ich aufbrach.«
»Und Ihr seid auf dem Rückweg niemandem begegnet?«
»Nicht auf dieser Seite des Flusses.«
»Ich glaube«, sagte Radulfus, »wir sollten abwarten, bis Ihr den Ort des Geschehens bei Tageslicht inspiziert habt und die glücklose Seele identifiziert ist. Genug für heute. Geht zu Bett, Tutilo, und Gott gewähre Euch einen guten Schlaf. Wenn wir uns zur Prim erheben, wollen wir uns vergewissern und weitere Betrachtungen anstellen, ehe wir uns an einer Deutung versuchen.«
Wer aber, dachte Cadfael später, zwar schon im Bett, aber noch nicht gewillt zu schlafen, wer von uns fünfen, von denen einer redete und vier lauschten, wird diese Nacht ein Auge zutun? Und wie viele von uns dreien, die wir wußten, daß ein junger Mann, um heute abend zu uns zu gelangen, diesen Pfad nehmen mußte, hat schon einen Schritt weitergedacht und diesem namenlosen Opfer einen Namen gegeben? Wer mag erkannt haben, daß es für eine gewisse Person von Vorteil sein könnte, wenn dieser junge Mann nie bei uns ankommen würde? Radulfus? Ihm kann eine so naheliegende Möglichkeit nicht entgangen sein, aber er schreckt offenbar davor zurück, weitere Schlüsse aus der Sache zu ziehen, bis mehr darüber bekannt ist. Prior Robert? Nun, man muß gerechterweise zugeben, daß er heute abend kaum ein Wort gesprochen hat; er muß warten und Beweise finden, bevor er jemanden anklagen kann, aber er ist intelligent genug, all diese kleinen Nichtigkeiten zusammenzufügen und etwas aus ihnen herauszulesen. Und ich? Ich muß wohl für mich selbst wie für jeden anderen jene Warnung ausgesprochen haben: Allzu leicht wird ein falscher Weg eingeschlagen. Und wenn man einmal auf dem falschen Weg ist, so ist es unendlich schwer, umzukehren und die richtige Fährte zu finden.
Überlegen wir also, was wir schon wissen: Aldhelm – möge er daheim sein, seinen Auftrag vergessen
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