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Der Fromme Dieb

Der Fromme Dieb

Titel: Der Fromme Dieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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nach dem letzten Orakelspruch war das Evangelium aufgeschlagen gelassen worden, und plötzlich kam ein Luftzug von der südlichen Tür her und blätterte die Seiten um, von Johannes zu Matthäus. Es trat zwar niemand ein, aber ich glaube, irgend jemand muß den Riegel zur Seite geschoben und die Tür geöffnet haben und sie, als er Stimmen drinnen vernahm und weil er nicht stören wollte, behutsam wieder geschlossen haben. Kein Zweifel am Luftzug, jeder hat ihn verspürt. Und, weißt du, dann hielt das Blättern an der besagten Stelle an, weil mir beim Zuschlagen des Evangeliums ein paar Blütenblätter und andere Teilchen vom Schwarzdorn aus dem Ärmel oder Haar in den Bund des Buches gefallen waren. Das Hindernis war so geringfügig, daß es den Ablauf der sortes nicht beeinträchtigte, als sie das Buch feierlich mit beiden Händen öffneten und mit einem Finger auf den jeweiligen Satz deuteten. Aber als der Wind die Seiten umschlug, genügte das Gewicht der Blüten, um die Bewegung an jener Stelle zu unterbrechen. Sollten wir da von Zufall sprechen? Und zurückblickend«, sagte Cadfael, den Kopf halb zweifelnd, halb überzeugt wiegend, »fällt mir ein, daß der Wind, der hereinwehte, sich gelegt hatte, noch bevor die Stelle im Buch erreicht war. Ich sah, wie die letzte Seite ganz langsam anhielt und zögerte, ehe sie sich niederlegte. Die Luft über dem Altar regte sich nicht. Nicht das geringste Flackern der Kerzen.«
    Aline hatte die ganze Zeit aufmerksam zugehört, ohne etwas zu dem Gespräch beizutragen. Es war etwas Verhaltenes, Geheimnisvolles um sie, dachte Cadfael, als weilte ein Teil ihres Wesens irgendwo an einem einsamen und schönen Ort, obwohl ihre blauen Augen wach auf ihrem Ehemann und seinem Freund ruhten und sie der Unterhaltung mit einer Art duldsamer und belustigter Teilnahme folgte, wie eine Mutter, die ihren Kindern zusieht.
    »Und die Dame meines Herzens«, sagte Hugh, der ihren Blick auffing und resigniert lächelte, »die Dame meines Herzens macht sich, wie üblich, über uns beide lustig.«
    »Nein«, sagte Aline, plötzlich ganz ernst, »mir scheint nur, daß der Schritt von völlig normalen zu wundersamen Dingen so klein, fast zufällig ist, daß ich mich frage, warum ihr euch überhaupt darüber wundert oder euch bemüht, es mit dem Verstand zu begreifen. Wenn es zu begreifen wäre, könnte es doch kein Wunder sein, oder?«
    Im Empfangszimmer des Abtes erwartete sie nicht nur Radulfus, sondern auch Robert von Leicester. Sobald man sich begrüßt hatte, machte der Graf auf seine höfliche Art Anstalten, sich zurückzuziehen.
    »Ihr habt hier Dinge zu besprechen, die mich nichts angehen, und ich möchte die Angelegenheit nicht noch erschweren. Abt Radulfus war so freundlich, mich, soweit angebracht, ins Vertrauen zu ziehen, da ich ja Zeuge dessen war, was heute morgen geschah. Nun aber habt Ihr, wie ich höre, Grund, weitere Befragungen vorzunehmen. Ich habe meinen Anspruch auf die Heilige verloren«, fügte er mit einem kurz aufblitzenden Lächeln und einem Zucken seiner erhabenen Schulter hinzu, »und sollte Abschied nehmen.«
    »Euer Lordschaft«, sagte Hugh herzlich, »der Friede des Königs, so wie wir ihn bisher zu wahren vermochten, ist vorwiegend Euer Verdienst, und Eure Erfahrung damit ist weit größer als die meine. Wenn Vater Abt es gestattet, hoffe ich, daß Ihr bleibt und uns in den Genuß Eurer Erfahrung kommen laßt. Es geht um eine Mordsache, und sie geht jeden an, der ein Leben zu behalten oder zu verlieren hat.«
    »Bleibt!« sagte Radulfus. »Hugh hat recht. Wir können jeden guten Rat gebrauchen.«
    »Und ich habe so viel menschliche Neugier in mir, daß ich gern bleibe«, gestand der Graf und nahm bereitwillig wieder Platz. »Der Abt sagt mir, es sei zu dem, was wir heute morgen erlebten, noch etwas hinzuzufügen. Ich vermute, Sir, Ihr seid über den letzten Stand der Dinge informiert.«
    »Cadfael hat mir von Verlauf und Ergebnis der sortes und vom Geständnis Bruder Jeromes berichtet«, sagte Hugh. »Er versichert mir, daß wir anhand dessen, was er und ich am Tatort sahen, mehr wissen, als Jerome selbst weiß.«
    Cadfael ließ sich auf der gepolsterten Bank neben Hugh nieder und lehnte sich an die dunkle Holztäfelung. Das Licht hinter dem Fenster war noch hell und klar, denn die Tage wurden schon länger. Der Frühling war nicht mehr fern, wenn die dornigen schwarzen Büsche an den Feldrainen plötzlich weiß wurden wie Schneewehen.
    »Bruder Jerome hat die

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