Der Fromme Dieb
wir auch winzige Reste von Moos und Kalkstein in Aldhelms Wunden. Sein Schädel wurde zertrümmert und die Waffe wieder auf den Steinhaufen zurückgelegt. Er schien völlig unberührt, es sei denn, man schaute näher hin. Innerhalb von nur einer Woche hätten Wetter und Pflanzenwuchs alles wieder zugedeckt, was verräterisch hätte erscheinen können. Ich frage mich nun, ob Jerome überhaupt einer solchen Tat fähig ist.
Einen schweren Stein aufzuheben, damit auf den Schädel eines bewußtlos am Boden liegenden Mannes zu zielen und den Stein dann eiskalt an seinen alten Platz zurückzulegen? Es wundert mich schon, daß er überhaupt den Mut aufgebracht hat, so fest zuzuschlagen, daß sein Opfer bewußtlos wurde und der Ast dabei sogar noch entzweibrach, selbst wenn er zum Teil morsch war. Erinnert Euch: Er sagte, daß er dann voller Angst über seine Tat sein Opfer genau betrachtet und festgestellt habe, daß es der falsche Mann war. Gegen Aldhelm hegte er keinen Groll. Und bedenkt auch, daß niemand Jerome gesehen hat, daß zu der Zeit auch niemand wußte, daß er das Klosterareal verlassen hatte. Er tat, was jeder verängstigte Mann in Panik tun würde; er lief davon und verbarg sich in der Gemeinschaft, wo jeder ihn kannte und achtete und keiner ihm solch eine Tat zutrauen würde.«
»Ihr wollt also damit andeuten«, sagte Graf Robert, der Cadfaels Worten aufmerksam gefolgt war, »daß es zwei Mörder gab, jedenfalls zwei, die einen Mord beabsichtigten, und daß dieser armselige Bruder, nachdem er begriffen hatte, daß er den falschen Mann niedergestreckt hatte, nicht den geringsten Grund hatte, ihm weitere Blessuren zuzufügen.«
»Genau das glaube ich«, sagte Cadfael.
»Und Ihr, Lord Sheriff?«
»Nach allem, was ich über Jerome weiß«, sagte Hugh, »bin ich derselben Meinung.«
»Dann wollt Ihr aber auch sagen«, bemerkte der Graf, »daß der Mann, der die Tat zu Ende führte, einer war, der einen Grund hatte, Aldhelm aus der Welt zu schaffen, bevor er das Kloster erreichen konnte. Nicht Tutilo, sondern Aldhelm. Und jener kannte seinen Mann und sorgte dafür, daß er nie ankam.
Beim Sturz war dem Schäfer die Kapuze nach hinten gerutscht.
Diesmal lag kein Irrtum vor, er wurde erkannt und getötet und nicht, wie im ersten Fall, für einen anderen gehalten.«
Es folgte ein kurzes, tiefes Schweigen, während sie einander anschauten und alle Möglichkeiten abwogen.
Schließlich sagte Abt Radulfus bedächtig: »Es ist ganz logisch. Denn das Gesicht war jetzt offen zu erkennen, obwohl Jerome sich hinknien und genau hinsehen mußte, da die Nacht sehr dunkel war. Aber wenn Jerome das Gesicht erkennen konnte, so konnte der andere es auch.«
»Man muß noch etwas anderes bedenken«, sagte Hugh.
»Aldhelm wird nach diesem Schlag auf den Kopf kaum länger als eine Viertelstunde hilflos am Boden gelegen haben. Wer immer ihn tötete, hat ihn während dieser Zeit getötet, denn er hat sich nicht gerührt; es gab dafür keine Spuren am Boden.
Wenn sein Körper sich beim zweiten – diesmal tödlichen –
Schlag noch einmal bewegt hat, kann es nur ein kurzes Zucken gewesen sein. Der Mörder muß sich ganz in der Nähe aufgehalten haben. Vielleicht war er sogar Zeuge des ersten Angriffs. Jedenfalls war er innerhalb sehr kurzer Zeit an Ort und Stelle. »Vater«, fragte er in scharfem Tone, »habt Ihr Tutilo freigelassen?«
»Noch nicht«, entgegnete Radulfus, ohne verwundert zu sein. Der Grund für Hughs Frage war klar. »Man sollte vielleicht nichts überstürzen. Ihr habt recht, uns daran zu erinnern. Tutilo kam denselben Pfad entlang und fand den Toten. Es sei denn – es sei denn, er hat zu dieser Zeit noch gelebt. Ja, es könnte immer noch Tutilo gewesen sein, der das zu Ende führte, was Jerome begonnen hatte.«
»Er berichtete mir«, sagte Hugh, »wie er wohl auch Euch erzählt hat, daß er im Dunkeln nicht feststellen konnte, wer der Tote war. Das könnte wahr sein, wenn der Mörder vor ihm am Ort des Geschehens war. Selbst bei Tage konnten wir nicht erkennen, wer der Tote war, bevor Cadfael die unversehrte Gesichtshälfte zum Licht hin drehte. Tutilo berichtete Euch, Vater Abt, wie er seine Hand auf die zertrümmerte linke Gesichtshälfte des Toten legte. Das alles, sein Verhalten, seine Stimme, das Grauen, das ihn erfüllte – er zitterte, als er darüber sprach – , schien mir ehrlich zu sein. Und doch kann man nicht ausschließen, daß er nur wenige Minuten nach Jeromes Flucht dort eintraf, den
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