Der Fromme Dieb
Wahrheit gesagt, die ganze Wahrheit, soweit er sie kennt, doch es ist nicht die ganze Wahrheit. Ihr habt ihn gesehen, er war weder willens noch imstande, etwas zu verschweigen, und hat es auch nicht getan.
Erinnert Euch, Vater, er sagte, daß er dort stand und wartete.
Das hat er wirklich getan, wir haben die Stelle gefunden, wo er unbehaglich von einem Fuß auf den anderen getreten ist, wo das Gras niedergetrampelt war – gleich hinter den Büschen neben dem Pfad. Er beschrieb, wie er einen heruntergefallenen Ast aufgehoben hat, als er den jungen Mann sich nähern hörte, wie er damit auf ihn eingeschlagen hat und der Mann besinnungslos zu Boden stürzte, wobei ihm die Kapuze vom Kopf rutschte. Das alles ist wahr – Hugh kann es bestätigen.
Wir fanden den Ast dort, wohin Jerome ihn anschließend geworfen hat. Er war zum Teil morsch und bei dem Schlag entzweigebrochen, aber doch fest und schwer genug, um Aldhelm damit niederzustrecken. Und die Leiche lag, wie von Jerome beschrieben, quer über dem Pfad, und die Kapuze war in den Nacken gerutscht. Und Jerome sagt, als ihm bewußt geworden sei, was er getan hatte, und er glaubte, gemordet zu haben, sei er hierher gelaufen, um sich zu verstecken. Genau das hat er getan, und krank war er auch, denn Bruder Richard fand ihn bleich und zitternd in seinem Bett, nachdem er nicht zur Komplet erschienen war. Aber er sagte kein Wort, nur daß er krank sei, was ja auch der Wahrheit entsprach, und ich flößte ihm Arznei ein. In seinem Geständnis sprach er nur von einem Schlag, und ich bin überzeugt, daß er tatsächlich nur einmal zugeschlagen hat.«
»In der Tat«, sagte Radulfus, nachdenklich die Stirn runzelnd, »von einem weiteren Schlag war nicht die Rede. Ich glaube nicht, daß er etwas verschwiegen hat.«
»Auch ich glaube das nicht, Vater. Seit jener Nacht ist er wie ein Schwerkranker herumgeschlichen, voller Entsetzen über seine Tat. Diesen einen Schlag fand ich bei meiner Untersuchung von Aldhelms Schädeldecke bestätigt. Sein Hinterkopf war mit wenig Blut befleckt, und in dem rauhen Wollstoff fand ich Holzreste des zerbrochenen Astes. Der Schlag auf den Hinterkopf wird Aldhelm für eine kurze Weile bewußtlos gemacht haben, hat aber ganz gewiß seinen Schädel nicht gespalten und nicht zum Tode geführt. Hugh, was sagst du dazu?«
»Ich meine, sein Kopf hätte ihm nachher wohl heftig geschmerzt«, sagte Hugh, »aber daß nichts Ernsteres geschehen wäre. Er wäre wohl nicht länger als höchstens eine Viertelstunde bewußtlos geblieben, das war das Schlimmste, was Jerome seinem Opfer mit diesem Schlag hat zufügen können.«
»Der Meinung bin ich auch. Jerome sagt, er habe zugeschlagen, näher hingeschaut und, als er sein Versehen erkannte, die Flucht ergriffen. Und ich glaube ihm.«
»Ich nehme kaum an, daß er noch die Dreistigkeit besaß, zu lügen«, sagte der Graf. »Er war gewiß auch sonst kein verwegener Bursche, denke ich mal, und bei den sortes zudem noch in großer Angst vor dem Urteilsspruch des Evangeliums.
Dennoch war er überzeugt, gemordet zu haben.«
»Mit dieser Schreckensvision ist er vom Tatort davongestürzt«, sagte Cadfael. »Und das nächste, was er hörte, war, daß Tutilo den Toten gefunden hatte. Was sonst sollte Jerome glauben?«
»Aber sollten wir trotz aller Zweifel eigentlich nicht immer noch genauso unbeirrt bleiben?« fragte Radulfus bitter. »Wie können wir sicher sein, daß er, der solch eine schreckliche Tat begonnen hat, sie nicht auch zu Ende führte?«
»Wir können nicht sicher sein. Nicht völlig sicher. Nicht ehe wir alles wissen und jede Einzelheit geklärt ist. Aber ich glaube, er hat wahrheitsgetreu berichtet, soweit er die Wahrheit kennt.
Denn was dann folgte, war etwas ganz anderes. Hugh wird sich erinnern können und bestätigen, was ich zu sagen habe.«
»Ich erinnere mich nur allzu gut«, sagte Hugh.
»Ein paar Schritte unterhalb des Pfades fanden wir einen Haufen Steine, seit langem schon mit Moos und Flechten überwuchert. Beim obersten Stein dieses Haufens war die Moosschicht zerrissen; das war deutlich zu erkennen, obwohl er sorgfältig an seinen alten Platz zurückgelegt worden war. Ich hob ihn hoch – ein schwerer Stein, groß wie zwei Fäuste. An seiner rauhen Unterseite waren Spuren von Blut zu erkennen, nicht sichtbar, solange er am Boden lag. Wir haben den Stein mitgenommen, um ihn genauer zu untersuchen. Er war ohne Frage die Mordwaffe. Denn außer Aldhelms Blut auf dem Stein fanden
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