Der frühe Vogel kann mich mal: Ein Lob der Langschläfer (German Edition)
Sonntag bereits frühmorgens die Welt mit Fleiß statt mit friedvollen Sit-ins aus den Angeln zu heben. Ihre Frage, wie man denn jetzt noch im Bett liegen könne, war eigentlich nichts anderes als der unverhohlene Vorwurf: Langschläfer sind Taugenichtse.
Das Fräulein Frida Frei, das im Wechsel mit der weitaus milderen Hildegard Straubitz den Weckdienst in dem Internat versah, in das man mich später wegen meiner »Sonderlichkeit« abgeschoben hatte (unter welche neben anderen vermeintlichen Charakterschwächen auch meine Vorliebe fürs lange Schlafen fiel), hielt es ähnlich wie meine Mutter. Das hochmoderne Schulprojekt, dessen Probandin ich auf unfreiwillige Weise geworden war, hatte mir die Chance gelassen, den Schulplan – abgesehen von wenigen, unschwer zu akzeptierenden Konstanten – zeitlich selbst zu gestalten. Selbstverständlich legte ich mir, so oft es nur möglich war, den Unterrichtsbeginn auf die dritte Stunde, auch wenn das bedeutete, dass ich oft nicht vor zwei Uhr nachmittags wieder auf meinem Zimmer war und die Schulaufgaben sich bis in die frühen Abendstunden zogen. Aber das war ein Preis, den ich gerne gezahlt habe für das, was ich morgens am liebsten tat: Mich noch einmal umdrehen und die Wärme des Bettes spüren …
Ich zählte zu den »Ausschläfern«, von denen es in meinem pädagogischen Laboratorium nur wenige gab. Fräulein Frei jedoch kannte keine Gnade. Im ersten Monat polterte sie, wann immer sie Weckdienst hatte, in mein kleines Zimmer und verlangte, dass ich sofort aufstünde. Zur Abwehr hängte ich ein Schild an meine Zimmertür, auf dem stand: »Bitte ausschlafen lassen!« Das gab mir für etwa einen Monat Ruhe, bevor sie erneute Übergriffe startete: Sie betätigte die Türklinke, öffnete die Tür einen Spalt und täuschte vor, sich im letzten Moment noch an mein Weckverbot zu erinnern – selbstredend, um die Tür daraufhin mit so heftigem Schwung ins Schloss fallen zu lassen, dass ich in meinen jungen Jahren eine Ahnung von Herzrhythmusstörungen bekam und vor Aufregung nicht mehr einschlafen konnte. Der dicken Rüge, die sie sich – zu meinem Glück – von der Internatsleitung auf meine Beschwerde hin eingefangen hatte, begegnete sie mit dem heuchlerischen Argument, dass sie sich um mein schulisches Fortkommen sorge und Angst habe, ich könnte sitzenbleiben.
Hätte diese bekennende Frühaufsteherin, die natürlich nicht zufällig die Morgenschicht bevorzugte, doch nur einmal nachmittags Dienst gehabt! Hätte sie da meine Klassenarbeiten gesehen und doch einmal einen Blick in meine Zeugnisse geworfen! Dann hätte sie gewusst, dass ihre Sorge gänzlich unbegründet war. Ausgerechnet Mathe, das Streberfach schlechthin, war mein Paradefach. Ich habe sogar für unsere Schule den in der achten Klasse vom Bundesministerium für Bildung ausgeschriebenen Mathematikwettbewerb gewonnen – mit Abstand! Und ich kam in der nächsten Runde nur deshalb lediglich ins erste Viertel, weil ich für die Anreise in die Kreisstadt, in der die Fortsetzung des Wettbewerbs ausgetragen wurde, schon um halb sechs aufstehen musste, um pünktlich um acht gegen meine Mitstreiter antreten zu können. Ich schwöre heute noch, wäre es erst um elf losgegangen, ich hätte alle in Grund und Boden gerechnet!
Ja, ich bin Langschläfer! Ja, ich hasse es, wenn der Wecker vor 9.30 Uhr klingelt! Auch das schon ist ein antrainiertes Zugeständnis an eine Welt, die ihre Mitmenschen mit völlig überholten Normen terrorisiert. Und ich habe keine Lust mehr, mir deswegen Vorwürfe machen zu lassen.
Denn: Der frühe Vogel kann mich mal!
Schluss mit der Tyrannei der Frühaufsteher!
Ob früher meine Eltern und meine »Erzieher« oder heute die Bauarbeiter von gegenüber, die zum Wohle der Bauwirtschaft auch samstags pünktlich um sieben Uhr morgens Presslufthammer und Metallsäge anschmeißen, nur um nach achteinhalb Minuten Arbeit erst einmal anderthalb Stunden Pause zu machen – all diese militanten Frühaufsteher sind angetreten, um eine entspannte Minderheit mit einer verrückten Arbeitsethik zu behelligen, die seit Urzeiten den Morgen beschallt und den frühen Abend schon nicht mehr erlebt.
Der Vater meiner besten Freundin hat mir dies, zumindest was die Bauarbeiter betrifft, unverblümt bestätigt. Jahrelang hat er als Polier auf Hamburgs Baustellen diverse Architektursünden hochgezogen, aber auch bei seinen Leuten für etwas Rücksicht auf schlafende Anwohner gekämpft. Mal mehr, mal minder
Weitere Kostenlose Bücher