Der frühe Vogel kann mich mal: Ein Lob der Langschläfer (German Edition)
mit Kaffee ihr Schlafdefizit wettzumachen, drohen über ihrer Arbeit einzuschlafen und hören nicht auf, über die geraubte Stunde zu jammern. Deutschlands bekanntester Schlafforscher, Professor Dr. Jürgen Zulley, stellt hierzu fest: »Manche brauchen vier bis acht Wochen zur Umstellung, andere schaffen es niemals.« [1]
Der ökonomische Sinn dieser europaweit aufgezwungenen Maßnahme steht ohnehin in Frage. 2005 gab die Bundesregierung ungeniert zu, dass die Sommerzeit keinen sinkenden Energieverbrauch bewirke: »Die durch das Bundesumweltamt recherchierten Erkenntnisse wiesen schon vor gut zehn Jahren auf den Umstand hin, dass von einer Zeitumstellung auf die Sommerzeit keine positiven Energiespareffekte zu erwarten sind. Danach wird die Einsparung an Strom für Beleuchtung, insbesondere bei vermehrtem Einsatz effizienter Beleuchtungssysteme, durch den Mehrverbrauch an Heizenergie durch die Vorverlegung der Hauptheizzeit überkompensiert.« [2]
Die Anpassung an den neuen sommerlichen Tagesrhythmus fordert Studien zufolge ihren Tribut an die Gesundheit. Nicht nur Langschläfer, sondern auch Frühaufsteher leiden verstärkt unter Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Verkehrsunfälle häufen sich, ebenso Fehler bei der Arbeit, besonders beim Bedienen von Maschinen. Die Gefahr von Risikopatienten, einen Herzinfarkt zu erleiden, verdoppelt sich.
Doch das (Selbst-)Mitleid der Frühaufsteher hält nur so lange vor, bis ihre innere Uhr wieder sommerzeitlich tickt. Langschläfer, die aufgrund ihrer biologischen Disposition das ganze Leben in diesem durch Schlafraub verursachten abgedämpften Modus verbringen müssen, finden wegen des vorübergehenden Müdigkeits-Zustands der Frühaufsteher noch längst keine Gnade. Viel zu rasch gewöhnen sich ihre Gegenspieler nach der Zeitumstellung an den neuen Takt. »Der frühe Vogel fängt den Wurm« gilt auch zur Sommerzeit – und hat international seine Entsprechungen. Die Franzosen mahnen: »Wer am Morgen früh aufsteht, dem hilft der liebe Gott und lenkt seine Hand.« In Russland weiß man: »Frühaufsteher sammeln Pilze, die Schläfrigen und die Faulen finden später nur noch Brennnesseln.« Und in Italien heißt es: »Wer schläft, fängt keine Fische.«
Doch woher kommt dieser Drang, am frühen Morgen Fische oder Würmer fangen zu wollen oder Pilze zu sammeln, und das auch noch mit Gottes Hilfe und Segen? Er hat seinen Ursprung in Zeiten, die weit zurückliegen und längst überholt sind. Wer sich in vormodernen Gesellschaften tatsächlich aufraffen konnte, etwas früher als seine Mitstreiter aufzustehen, war ökonomisch tatsächlich klar im Vorteil: Er konnte die Pilze sammeln und die Fische fischen, bevor der Langschläfer dazu in der Lage war. Mit Fischen und Pilzen konnte der Frühaufsteher seine Familie ernähren, und, wenn er ganz findig war, sogar noch etwas davon auf dem Markt verkaufen – ein doppelter Vorteil gegenüber dem, der länger in den Federn blieb.
Diese Moral, die noch in einer Lebenswirklichkeit verankert ist, die vom Muhen der Kühe und dem Krähen des Hahns bestimmt wurde, ist in einer globalen Gesellschaft, die niemals schläft, natürlich völlig überholt. Denn Zeit ist relativ, und was ist schon ein Tag, wenn die Erde rund ist und die Börse in Tokio öffnet, während wir hierzulande die Augen schließen? Fängt nicht vielleicht derjenige eher die Fische, der nachts noch wach ist und auf dem Parkett in Übersee spekuliert, als jener, der sich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bette quält? Sammelt nicht vielleicht der die schönsten Pilze, der in den frühen Abendstunden noch an Manuskripten, Computerprogrammen oder Webdesigns arbeitet und dafür dickes Geld kassiert? Und kann – etwa bei einem geschäftstüchtigen Barmann – nicht gerade die Happy Hour das sprichwörtliche Gold im Munde haben, weil hier die Kasse besonders häufig klingelt?
Der Tag hat 24 Stunden. Aber Arbeit, die in den frühen Abendstunden geleistet wird und von der man sich mit einem ausgedehnten Schlaf erholen muss, zählt bei vielen immer noch nicht voll. Ein Paradebeispiel, das selbst Stammtischgespräche wie einen Hort der Hochkultur dastehen lässt, lieferte – als Griechenlands Finanzkrise an die Öffentlichkeit drang – die BILD -Zeitung in einem offenen Brief an den ohnehin von Schmähungen und Schande gebeutelten Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou. In einem zwischen Chauvinismus und Dummheit oszillierenden Tugendkatalog des Deutschtums war da zu
Weitere Kostenlose Bücher