Der frühe Vogel kann mich mal: Ein Lob der Langschläfer (German Edition)
Lässigkeit im Umgang mit seiner hohen Intelligenz konnte er auch mal vereinfachen, wo der Alltag Vereinfachungen auferlegte. Großzügig war er ebenfalls – selbst gegenüber denjenigen, die sich seine Leistungen auf die (Landes-)Fahne schreiben wollten. »Wenn ich mit meiner Relativitätstheorie recht behalte«, meinte Einstein 1915 zur London Times , »werden die Deutschen sagen, ich sei Deutscher, und die Franzosen, ich sei Weltbürger. Erweist sich meine Theorie als falsch, werden die Franzosen sagen, ich sei Deutscher und die Deutschen, ich sei Jude.«
Er war witzig, spöttisch und mitunter frech, was das bekannte Foto mit der herausgestreckten Zunge beweist. Der Physiker kam damals gerade von einer Veranstaltung der Uni Princeton zu Ehren seines 72. Geburtstags und nahm auf der Rückbank eines Autos zwischen seinem Chef und dessen Frau Platz. Genervt von den Fotografen, die nicht aufhören wollten, ihn zu fotografieren, streckte er ihnen die Zunge heraus. Eine stilsichere Geste (andere hätten den Mittelfinger gezeigt), die ihn außerhalb akademischer Zirkel zur Ikone aufsteigen ließ. Einstein avancierte posthum zum Popidol einer jungen Generation. Das Zungenbild zierte neben Che Guevara unzählige Wohngemeinschaften der Hippie-Ära, die ja Langschläfern grundsätzlich aufgeschlossener gegenüber war als die Generation Wirtschaftswunder. Einstein galt ihnen als frecher Friedensapostel. Es war die Verschmelzung von entspanntem Genie und menschlicher Größe: Wenige Tage noch vor seinem Tod 1955 hatte er ein Manifest für die Abrüstung unterzeichnet und damit auch zum Kalten Krieg Position bezogen.
Helmut Schmidt
Jede Ehe hat ihr Geheimnis. Das Geheimnis ihrer viel bewunderten Ehe mit Helmut Schmidt erzählte Loki Schmidt einmal ganz nebenbei einem Reporter: »Die Tragik unserer Ehe ist, dass ich ein Morgensinger bin, mein Mann eine Nachteule« [35] , bekannte sie.
Wer hätte das gedacht?, mag manch gekränkter Frühaufsteher nun denken – der Altbundeskanzler mit dem souveränen Habitus als »Elder Statesman« keine Lerche? Tja, so sieht es aus: Helmut Schmidt ist einer von uns Langschläfern und der lebende Beweis dafür, dass man als solcher nicht unbedingt im milchigen Nebel der Bohème und der Tagträumerei zu finden ist, sondern mitten im Weltgeschehen. Es gibt noch mehr Hinweise darauf, dass Helmut Schmidt die Morgenstunde lieber gut gebettet verbringt, als Zugeständnisse an bürgerliche Betriebsamkeit zu machen, wie so viele andere im Politzirkus und in den Vorstandsetagen. Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Zeit , berichtet Folgendes von den Zusammentreffen mit dem Altbundeskanzler, die seiner Kolumne Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt vorausgehen: »Helmut Schmidt raucht ja nicht nur Zigaretten. Jedes Mal bringt er Schnupftabak mit und trinkt dazu Kaffee mit Milch und extra viel Zucker. Unsereins würde angesichts dieser Dröhnung wie Rumpelstilzchen durch die Flure hüpfen. Schmidt dagegen ist dann überhaupt erst auf Betriebstemperatur.« [36] Wo sich die beiden Interviewpartner zu ihren freitäglichen Treffen einfanden (Hamburger Pressehaus, 6. Stock), ist bekannt, über das Wann indes kann man nur Mutmaßungen anstellen – aber es ist sehr wahrscheinlich, dass die Treffen nach zehn Uhr morgens stattfanden. Denn vorher ist im Pressehaus – außer der rührigen Verwaltung – nur bedingt jemand anzutreffen. Und wer dann selbst um diese Zeit noch eine derart brisante Mischung aufputschender Stimulanzien schätzt, um in die Gänge zu kommen, der weist sich unmissverständlich als einer aus, dessen Motor noch nicht angesprungen ist, und er kann unmöglich ein Frühaufsteher sein.
Ein weiterer Hinweis auf Schmidts Langschläfertum findet sich in der Nonchalance seines Lebensstils. Sein Ferienhaus am Brahmsee ist eine Baracke aus Holz, Presspappwänden und Eternitplattenverkleidung, die er (allerdings einschließlich 30 Metern Seeufer und 3000 Quadratmetern Roggenackerboden) vor knapp 50 Jahren für 7000 Euro gekauft hat. Mehr war damals nicht drin. Auch im Haus nicht: ein Eltern-, ein Kinderschlafzimmer, eine Stehküche, ein Klo. Kein Strom, kein fließend Wasser, keine Heizung. Erst nach und nach wurde es in der Baracke heimelig – und dann wurde sie gleich Schauplatz der hohen Politik, wenn etwa um Finanzen, Arbeitsplätze oder Koalitionen gerungen wurde, man Staatskrisen bewältigte und versuchte, mögliche Fehler zu verwinden. Am Brahmsee wurden Minister empfangen und
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