Der frühe Vogel kann mich mal: Ein Lob der Langschläfer (German Edition)
wirklich krank, dann geben Sie, wie in allen anderen Situationen, in die Sie Ihre Umwelt vor elf Uhr zwingt, Ihrer schlechten Laune unmittelbaren Ausdruck. Seien Sie einfach das unausgeschlafene wortkarge Ekelpaket, das Sie nun mal morgens aus gutem Grunde sind. Sie werden nach Ihrer Krankenversichertenkarte gefragt? Nesteln, suchen, grummeln und erst finden, wenn sich hinter Ihnen eine Schlange gebildet hat. Man will die Praxisgebühr abkassieren? Behaupten Sie, Sie hätten schon bezahlt – man soll Ihnen erst einmal das Gegenteil beweisen. Seien Sie schwierig und stur. Ihre Krankheit kommt Ihnen hierbei gut zupass, denn wer kann schon nett sein, wenn ihn Zahn-, Kopf-, Magen-, Rücken- oder andere Schmerzen quälen. Und: Immer nuscheln. Man darf Sie auf keinen Fall verstehen. Nur ein Satz darf laut und deutlich vernehmbar sein: »Warum haben Sie eigentlich nur morgens offen, wenn hier so viel Stress ist? Und nicht abends, wenn alle Feierabend haben und niemand in Eile ist? Das wäre für alle besser.« Lassen Sie den Unmut, den diese Forderung unweigerlich auslöst, an sich abperlen – Sie wollen den Krieg gewinnen und nicht nur eine Schlacht. Im Sprechzimmer dann das gleiche Programm: Ungenießbar sein, auf den allgemeinen Stress hinweisen und mit Vorsicht anregen, dass alles viel leichter sein könnte, wenn die Praxis auch mal abends geöffnet wäre.
Tun Sie sich mit anderen lang schlafenden Patienten zusammen. Mahnen und mosern Sie gemeinsam per E-Mail oder abwechselnd telefonisch immer wieder, dass Änderung geboten ist. Gibt Ihr Arzt nach und erweitert seine Sprechstunden bis in den Abend, loben Sie ihn ostentativ und verschaffen Sie ihm als Belohnung neue Patienten, am besten Privatpatienten. Gibt er nicht nach, dann ziehen Sie Ihr Ding noch eine Weile durch und wechseln Sie dann, wenn möglich, zu dem Arzt, den Ihre Langschläfergefährten schon mürbe gemacht haben und vielleicht auch einer von Ihnen ist. Noch besser: Bleiben Sie gesund.
Fallbeispiel 7: Der Frühaufsteher im Staatsdienst
Niemand, der nicht von Haus aus den masochistischen Drang zum frühen Aufstehen verspürt, begibt sich freiwillig in den Staatsdienst. Hier beginnt der Tag nämlich grundsätzlich um acht, was genaugenommen bedeutet: Aufstehen um halb sieben, danach nervige Staus und vollgepackte U-Bahnen. Und das ein Leben lang.
Es könnte dem Langschläfer, tolerant wie er ist, an sich ja egal sein, wie andere ihr Leben gestalten. Leider aber sind die Berührungspunkte zwischen Langschläfern und Frühaufstehern im Staatsdienst so neuralgisch, dass selbst der großmütigste Langschläfer mit der Beamtenspezies über Kreuz kommt. Denn dieser Typus ist nicht nur Frühaufsteher – die Kernschmelze mit seinem Dasein als Staatsdiener potenziert seine Widerwärtigkeit ins Unermessliche. Ist ein Frühaufsteher an sich einfach nur pedantisch, ist der Frühaufsteher im Staatsdienst die kristalline Form des Pedanten. Er ist der König aller Korinthenkacker und kann vor Engstirnigkeit kaum aus den Augen sehen. Am liebsten nimmt er die Langschläfer aufs Korn: Sie sind sein natürlicher Feind, weil sie aus Sicht des Frühaufstehers alles verkörpern, was er hasst: Faulheit, Trägheit, Schlafmützigkeit. Und sie schlafen lang, was sich von selbst verbietet. Er würde sie am liebsten mit strengsten Erziehungsmaßnahmen zur Vernunft prügeln. Aber ihm sind andere Mittel der Schikane gegeben, und die nutzt er aus: Er nötigt dem Langschläfer schon zu nachtschlafender Zeit das Ausfüllen komplizierter Formulare ab, verstrickt ihn bei der Abfrage von Daten in Widersprüche und zieht ihn ohne Gnade für angebliche Fehler zur Rechenschaft. Er mahnt, straft, maßregelt, mindert Beiträge, verschleppt Vorgänge, verhindert Anträge.
Die Fronten sind also klar markiert. Und natürlich dürfte auch hier im Prinzip scharf geschossen werden. Aber tun Sie es besser nicht. Denn bereits Generationen redlicher Bürger haben sich an den Sturköpfen im Staatsdienst die Zähne ausgebissen. Sparen Sie Ihre Kräfte und nutzen Sie sanftere Methoden. Denn der Staat hat ja auch ein Herz für Langschläfer und Öffnungszeiten bis zwölf Uhr. Das heißt für den Langschläfer: Kurz nach Öffnung jedes Amt meiden, kurz vor Schluss die Bude stürmen. Auch hier lohnt es sich, Gleichgesinnte zu aktivieren und in Massen anzutreten. Da Langschläfer in der Überzahl sind, muss man grundsätzlich annehmen, dass, egal wo man auftaucht, sich wenigstens ein ins
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