Der Fruehling des Commissario Ricciardi
sie herum befanden sich ihre Geschwister, die Eltern und ein Mann, den Ricciardi für ihren Schwager hielt, weil er ihn die Hand der Schwester hatte halten sehen.
Er kannte alles: Geschirr, Gläser, Tischtuch und Servietten, Stühle. Ein Jahr lang hatte er dieselbe Szene nun schon in stummer Ergebenheit beobachtet und kein einziges Detail war ihm entgangen (eine Art Berufskrankheit); da fiel es kaum ins Gewicht, dass er noch nicht einmal ihren Nachnamen kannte. Er war sogar, wenigstensdies eine Mal, darauf bedacht gewesen, keine Nachforschungen zu betreiben.
Enricas von Zeit und Raum losgelöster Alltag gefiel ihm so, wie er ihn sah: Das Bild strahlte Sanftheit und Ruhe, Kraft und Frieden aus. Ihr Leben war für ihn ein Fixpunkt, der einzige Leuchtturm im Nebel seines Schmerzes, ein kleiner beschaulicher Hafen, an den er jeden Abend zurückkehren konnte. Wenn er wegen der Arbeit fernbleiben musste, weil eine Ermittlung länger dauerte oder noch Berichte fertig zu schreiben waren, und er den Zauber jenes Moments dadurch verpasste, bemächtigte sich seiner eine kaum spürbare Unruhe. Er fand dann keinen Frieden, bis er nicht wieder zu seinem Fenster zurück konnte.
Rosa rief ihn unüberhörbar aus der Küche. Angelinis Orchester erging sich in einer letzten Arabeske.
Bis gleich, meine Süße, Liebste.
Maione schwieg. Hundert Fragen brannten ihm auf der Zunge, doch er blieb stumm.
Filomena lief etwa einen Meter von ihm entfernt; was er auch tat, Maione konnte sie nicht dazu bewegen, neben ihm zu gehen; sie hielt sich die ganze Zeit über knapp hinter dem Mann in Uniform. Fast als ob sie sich ihm nicht ebenbürtig fühlte, ja als ob sie sich schämte.
»Es tut bestimmt teuflisch weh.«
»Nein, nicht sehr. Der Doktor war nett, er war ganz vorsichtig.«
Eine Weile liefen sie schweigend weiter. Maione sah zu Boden, Filomena starr geradeaus. Ohne Angst, ohne Keckheit, ohne Hochmut. Sie hatte ihre Hand auf den Verband gelegt.
»Signora, bitte verstehen Sie mich. Ich muss Ihnen Fragen stellen.«
»Aber warum denn? Ich habe keine Anzeige erstattet und möchte auch keine erstatten.«
»Aber ... Signora, hier liegt ein Verbrechen vor und ich bin Polizist. Ich kann nicht so tun, als ob ich nicht gesehen hätte, was passiert ist.«
Filomena ging langsamer, als ob sie über Maiones Worte nachdenken würde.
»Sie sind nur zufällig vorbeigekommen. Ich hätte nicht nach Ihnen gerufen. Das heißt, Sie dürfen nicht glauben, dass ich Ihnen nicht dankbar bin. Sie haben für mich mehr getan als ein Bruder. Die Leute im Viertel ... ich habe nicht viele Freunde, Sie werden es selbst gemerkt haben. Vielleicht wäre ich ohne Sie den ganzen Tag lang dort sitzen geblieben und verblutet.«
»Sehen Sie. Ach was, ich meine, das ist doch nicht der Rede wert. Ich habe Sie ins Krankenhaus gebracht, und jetzt bringe ich Sie eben wieder nach Hause. Aber ich muss es wissen.«
Maione blieb stehen. Sie standen an der Ecke zur Piazza Carità, im schwachen Licht einer Straßenlaterne. Von irgendwoher bellte ein Hund.
»Ihnen ist großes Unrecht geschehen. Vielleicht ist es Ihnen noch nicht klar, aber spätestens morgen werden Sie es merken. Die Verletzung, die man Ihnen zugefügt hat ... Sie werden nicht wieder wie früher sein, wissen Sie das? Was ist passiert? Wer war das?«
Das Licht erhellte die verwundete Gesichtshälfte und den vom Blut roten Verband. Die andere Hälfte lag im Dunkeln und Maione hätte ihren Ausdruck nichtentziffern können. Allerdings hätte er, sofern es nicht absurd gewesen wäre, einen Moment lang fast glauben können, sie lächelte.
Das wär’s, dachte Tonino Iodice. Mit dem Fegen bin ich fertig, der Boden ist blitzsauber. Alles sieht aus wie vorher, als ob niemand hier gegessen hätte. Die Gäste sind wieder zu Hause bei ihren Frauen und Müttern. Sie haben gelacht, gesungen, getrunken. Auch ihre Rechnung haben sie bezahlt. Der ein oder andere wird vielleicht irgendwann wiederkommen und Freunde mitbringen.
Wenn es ihnen geschmeckt hat, werden sie schon wiederkommen. Eventuell regelmäßig. Ein bisschen wird uns auch das Glück helfen; meine Frau wird mich dafür lieben und meine Kinder mich respektieren. Denn das Glück bringt uns Geld, und das Geld den Respekt. Gott hat mir Zeit gegeben. Hätte die Alte weitergelebt, hätte ich keine Zeit gehabt. Ich hätte alles dichtmachen müssen und aus wär’s gewesen mit der Freiheit, meinen Kindern, meiner Frau. Aber sie ist tot. Wie viel Blut da war, Jesus Maria!
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