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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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erwarten, sie in der elenden Behausung eines Arbeiterviertels zu finden, im Besitz einer alten und ungebildeten Frau. Vor allem würde man nicht erwarten, sie am Schauplatz eines so grausamen Verbrechens zu finden, vom Mörder zurückgelassen. Maione zuckte mit den Schultern.
    »Vielleicht hat er das Geld nicht bemerkt. Es nicht in der Dose gesehen. Aus Angst, Verwirrung, wer weiß. Vielleicht war er blind vor Wut. Er hat die Calise umgebracht und ist dann abgehauen.«
    »Nein, das kann nicht sein. Hast du gesehen, die Wechsel und das Geld sind voll Blut. Er hat in der Schachtel herumgewühlt, mit schmutzigen Händen; dann hat er sie unters Sofa geworfen. Hat er etwas darin gesucht? Hat er’s gefunden? Und wenn er das, was er suchte, mitgenommen hat, wie sollen wir dann seine Spur verfolgen? Ganz bestimmt hat er nichts zurückgelassen, was auf ihn hinweist. Ich habe das Gefühl, dass keiner der Kunden, die wir hier haben – und er zeigte mit seiner zierlichen Hand auf den kleinen Haufen Dokumente –, unser Mörder ist. Wir können es aus Gewissenhaftigkeit weiter prüfen: Bringen wir also die Zählung all der Gläubigen unserer Heiligen zu Ende.«

    Von den nun schon lange anhaltenden mathematischen Bemühungen Maiones zu Mitleid gerührt, entließ Ricciardi den Brigadiere, der von der Anstrengung Kopfweh bekommen hatte, gegen Abend aus dem Dienst; er würde selbst die Liste der von der Alten ausgesaugten Leute fertigstellen, denen das unverhoffte Glück eines vorzeitigen Todes ihres Schutzengels zuteil geworden war.
    Als er an die frische Luft trat, atmete der Brigadiere tief ein. Mittlerweile hatte sich die Luft ganz unzweifelhaft verändert. Ein Hungergefühl machte sich bei ihm bemerkbar und ihm fiel auf, dass er kein Mittagessen gehabt hatte. Aber er dachte auch an Filomena Russos Gesicht und an ihre Verletzung.
    Das Abendessen konnte noch ein wenig warten; er machte sich auf den Weg zum Pilgerkrankenhaus.

    Ricciardi verließ das Präsidium zwei Stunden später, als die Tagaktiven sich bereits zerstreut hatten und Kreaturen der Nacht die breite Straße belebten, durch die er auf seinem Nachhauseweg gehen musste. Den Kopf hielt er leicht geneigt, seine Hände steckten in den Taschen; auf den Manschetten zeichneten sich ein paar Tintenflecken ab, eine Spur der langen Protokolle, die bei einem Mord auszufüllen waren.
    Während man ihn aus dem Schatten der Hauseingänge und aus den abzweigenden Gassen heraus misstrauisch beäugte, achtete er weder auf die kleinen Händel, die für einen Moment unterbrochen wurden, wenn er sich mit seinem leichten Gang näherte, noch auf die Frauen mit entblößter Brust, die sich bei seinem Vorbeigehen in die dunklen Querstraßen zurückzogen, um sich sofort danach jedem Mann anzubieten, dem der Frühling im Blut pulsierte oder der einfach nur die Einsamkeit in seinem Leib spürte.
    Ricciardi ging gesenkten Kopfes weiter, den neuen rätselhaften Fall im Sinn, das Leiden, den Schmerz, der um Frieden bat. Schritt für Schritt, im schaukelnden Licht der in der Straßenmitte aufgehängten Laternen, sah er den Ort des Geschehens wieder vor sich: die Blutspur auf dem Teppich, das armselige Lumpenbündel mit gebrochenem Genick. Die Wachsfigur, die mit der heilen Hälfte ihres zerfetzten Kopfes fortwährend ein altes Sprichwort wiederholte.

    Aber er konnte sich auch vorstellen, welche Verzweiflung das geheime und zwielichtige Metier des Opfers in Dutzende Familien gebracht haben musste. Wucher ist niederträchtig, dachte Ricciardi, und gehört zu den traurigsten Vergehen, weil dabei das Vertrauen der Menschen ausgenutzt wird, um es gegen sie zu verwenden. Und Arbeit, Hoffnungen, Erwartungen, ja eine ganze Zukunft aufgesaugt werden.
    Er lächelte dem Straßenpflaster zu. Komisch war’s schon: Die Alte betrieb zwei Gewerbe, mit einem schürte sie Hoffnungen, mit dem anderen vernichtete sie sie. Von einem hatte sie gelebt, durch das andere hatte sie den Tod gefunden. Nicht anders als das finstere und gemeine Volk, das ihn gerade im Schwarz der verborgenen Winkel der Via Toledo umgab, hatte Carmela Calise sich selbst eine Art zu leben zugeschnitten, indem sie sich das Vertrauen der anderen zunutze machte.
    So unterschiedlich waren ihre beiden Gewerbe am Ende gar nicht. Die Kartenlegerin und die Geldverleiherin saugten Vertrauen und Hoffnungen auf, trockneten die Seele aus. Aber die Frage blieb stets die gleiche: Hatte sie ein Recht zu leben oder nicht? Ricciardi kannte die Antwort. Sie

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