Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Soviel Blut.
Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin, die Treppe runter, die Straße entlang – es ist alles weg. Gott sei Dank hat mich niemand gesehen. Es tut mir auch Leid, es tut mir wirklich sehr leid. Aber jetzt habe ich Zeit. Die Alte ist in ihrem Blut gestorben und dadurch habe ich Zeit. Ich lebe weiter. Und warte.
Warte, bis sie mich holen kommen.
Ricciardi war zurück ans Fenster getreten und sah herüber. Enrica hatte alles bis zum letzten Krümel aufgekehrt,jetzt sah die Küche aus wie vorher, als ob niemand darin gegessen hätte.
Er schaute ihr zu, während sie sich prüfend umblickte, den Kopf dabei ein wenig zur Seite neigte, sich die Hände an der Schürze abtrocknete, die sie für den Rest ihres Lebens zu tragen schien.
Geschafft. Jetzt nickt sie kurz zustimmend und atmet auf. Sie nimmt den Stickrahmen, schaltet die Stehlampe neben dem Sessel an, genau da: einen Schritt weit vom Fenster entfernt. Beginnt zu sticken.
Ricciardi hält den Atem an, schließt langsam die Augen und öffnet sie wieder. Seine Arme sind verschränkt, er atmet langsam. Enrica macht den ersten Stich.
Kein Mensch auf der Welt wird dich je so lieben wie ich. Obwohl ich dich nicht einmal anspreche. Du siehst mich nicht, aber ich wache über dich. So verhält sich jemand, der liebt, ganz leise, wie ich es tue.
Auf der Treppe des Polizeipräsidiums ruft der Geist des ermordeten Polizisten nach seiner Frau. In der dunklen Wohnung im dritten Stock im Sanità-Viertel wiederholt die Gestalt der gemeuchelten Alten ihr Sprichwort.
Ricciardi sieht Enrica beim Sticken zu.
Die Toten scheinen lebendig und die Lebenden tot zu sein.
XX
Lucia Maione schlief gern bei geöffneten Fensterläden und zurückgezogenen Gardinen. Es war eines der Dinge, die ihrer Meinung nach erst »danach« gekommen waren: Sie wollte den Himmel sehen können, und zwar jederzeit.
Diese Dinge kamen, nachdem sie ihr Lächeln verloren hatte, ihre Lust zu lachen, die Liebe zum Meer. Danach. Sie teilte ihr Leben ein in »davor« und »danach«. Vor und nach dem Tod ihres Sohnes.
Sie hörte noch Lucas Stimme, wenn er die Treppe hochkam, und sie sah ihn in den Gesichtern der anderen Kinder; ganz leise schlich er sich in ihre Gedanken und lachte, während sie das Lachen verlernt hatte. Sie hatte ihm das Licht geschenkt und er hatte ihres ausgeknipst.
Der stellvertretende Polizeipräsident Angelo Garzo hatte bereits seinen Mantel vom Garderobenständer genommen, als Ponte, der Amtsdiener, an seiner Tür erschien. Als dieser sah, dass sein Vorgesetzter offensichtlich gerade gehen wollte, blieb er unschlüssig auf der Türschwelle stehen; es war zu spät, um den Rückzug anzutreten, allerdings wusste er auch, wie leicht der Vizepräsident in Zorn geriet, sofern man ihn mit dienstlichen Angelegenheiten behelligte, wenn er schon im Begriff stand, das Büro zu verlassen.
So kam es, dass beide in ihrer jeweiligen Position verharrten und sich anstarrten, Garzo mit dem Mantel überm Arm und Ponte in halber Verbeugung. Der Vizepräsident brach das Schweigen.
»So sprich doch, gütiger Himmel. Was gibt’s denn? Siehst du nicht, dass ich gerade gehen wollte?«
Ponte errötete und verbeugte sich noch tiefer.
»Ähm, verzeihen Sie die Störung, Dottore. In der Sanità ist eine Frau ermordet worden. Hier ist der Bericht, ich hab’ ihn von Commissario Ricciardi, der sich um den Fall kümmert. Sie können ihn sicher auch morgen lesen, Dottore, nur keine Umstände bitte.«
Garzo schnaubte ungeduldig und riss dem Mann die Mappe, die er trug, aus den Händen.
»Aber natürlich, Ricciardi. Wenn es irgendwelche Scherereien gibt, muss Ricciardi ja was damit zu tun haben. Lass mal sehen: Am Ende ist noch jemand Wichtiges darin verwickelt und ich stehe heut’ Abend im Theater schön blöd da, wenn ich nichts davon weiß.«
Rasch überflog er die Zeilen des Protokolls und war ganz offensichtlich erleichtert. Er zuckte mit den Schultern.
»Ach, nichts Wichtiges. Eine Alte aus den Arme-Leute-Vierteln, die zu Tode geprügelt wurde. Du hast recht, Ponte: Nichts, das nicht auch bis morgen früh warten kann. Wenn etwas passiert, ich bin im Theater. Gute Nacht.«
Der Zuschauerraum war nicht sehr voll: Das Stück stand schon lange auf dem Spielplan und die Stadt hatte auch anderes zu bieten. Marisa Cacciottoli di Roccamonfina seufzte; sie hätte sich lieber etwas anderes angesehen. Sie schaute zu ihrer Freundin, die neben ihr in einer der oberen Logen saß.
»Wie oft
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