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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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ließ keinen Platz für Zweifel.

    Maione betrat den Frauenschlafsaal des Krankenhauses leicht keuchend, da er die Treppen rasch hochgelaufen war. Wie immer war der riesige Raum mit der extrem hohen Decke voller Leute, auch zu dieser späten Stunde: Weinende Kinder, ganze Familien waren um die Betten herum versammelt und unterhielten sich lebhaft, ohne sich um die Kranken zu kümmern, die Ruhe brauchten.Weit und breit sah man weder Ärzte noch Krankenschwestern.
    Der Brigadiere wischte sich die Stirn mit dem nach hinten geschobenen Hut ab und sah sich auf der Suche nach Filomena Russo um. Er entdeckte sie fast sofort, weil sie allein war, in vornehmer Haltung, in denselben schwarzen Kleidern wie am Morgen.
    Maione erinnerte sich, dass das einfache Kleid blutgetränkt war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Und er hörte wieder den Tropfen, der ins Dunkel fiel.
    Er durchquerte den Krankensaal zwischen den beiden Bettenreihen, wohlwissend, dass die Gespräche, sobald er vorbeiging, unterbrochen und die Blicke feindselig werden würden.
    »Guten Abend, Signora. Wie geht es Ihnen?«
    Filomena drehte sich ganz langsam um, wie sie es schon am Morgen getan hatte, – mehr zum Klang der Stimme als zu der Person. Die rechte Seite ihres Gesichts wurde von einem Verband verdeckt, in dessen Mitte deutlich eine rote Linie aus Blut zu erkennen war: der Schnitt.
    Die schwarzen Haare waren durch Blut und Schweiß verklebt, das Kleid schmutzig, die Gesichtszüge verrieten Müdigkeit und Schmerz. Und dennoch war sie auch in diesem Zustand bei weitem die schönste Frau, die Maione je gesehen hatte.
    »Brigadiere. Ich danke Ihnen. Von ganzem Herzen.«
    Diese Stimme. Maione erinnerte sich, dass Doktor Modo bewundernd vom Klang ihrer Stimme gesprochen hatte. Er selbst glaubte, dass dies der Klang der Engel sein musste: tief, sanft, vibrierend wie der Ton, der in der Luft bleibt, wenn eine Glocke ihren letzten Schlag getan hat.Sofort fühlte der Polizist sich vom Krankenhaus bis zum Meeresufer schweben.
    Nach einem langen Augenblick kam er wieder zu sich. Einzig um nicht den Blick dieses einen nachtschwarzen Auges erwidern zu müssen, sagte er: »Kommen Sie, Signora. Kommen Sie mit mir. Ich bringe Sie nach Hause.«
XIX
    Schon im Treppenhaus hörte Ricciardi aus dem Radio in seiner Wohnung eine Tanzmelodie dröhnen. Nicht mehr lange, dann ist Tata Rosa taub, dachte er zärtlich. Die alte neugierige Nervensäge ... ich kenne niemanden, der noch dickköpfiger ist und schlechter kocht als sie. Aber eine andere Familie habe ich nicht.
    Als er die Tür aufschloss, war ihm klar, dass er sie sogar mit dem Kopf hätte einrennen können, ohne dass Rosa etwas gemerkt hätte. Er ging geradewegs ins Wohnzimmer und auf das große, helle Holzradio zu, dessen Lautstärkeregler er ein gutes Stück zurückdrehte. Dann zählte er bis drei und wandte sich der Tür zu; just in dem Augenblick erschien die Kinderfrau höchst aufgebracht im Zimmer.
    »Was soll das? Darf man jetzt schon kein Radio mehr hören?«
    »Aber klar doch, natürlich. Nur, weißt du, im Nationalmuseum, zwei Kilometer weiter, sind ein paar Mumien aufgewacht und haben angefangen, zur Musik von Cinico Angelini zu tanzen; der Direktor hat sich im Präsidium drüber beschwert.«
    »Oh, was sind wir heute aber witzig! Dann hatten Siewohl keinen anstrengenden Tag? Na, wer bloß gemütlich dasitzt und seine Akten studiert ... Und ich arme, alte, kranke Frau mit all meinen Gebrechen hetzte mich den ganzen Tag ab, damit hier alles rund läuft.«
    »Prima, dann weiß ich alles in bester Hand, mach’ nur weiter, ich geh’ mir inzwischen das Gesicht waschen.«
    »Ja, aber beeilen Sie sich, in zehn Minuten ist der Tisch gedeckt. Es ist schon spät und Sie müssen ja noch essen.«
    Was für eine Drohung, dachte Ricciardi, fast schon ein Urteilsspruch. Ich weiß schon, was sie mir heute Abend vorsetzen wird, der Blumenkohl stinkt ja bis zur Piazza Dante.
    Er ging in sein Zimmer, streifte Mantel und Jackett ab und konnte nicht anders, als sich ans Fenster zu stellen. In einigen Metern Entfernung beendete die Familie vom zweiten Stock gerade ihr Abendessen. Von seiner Position aus sah er die Hälfte der großen Küche und nur einen Teil des Tisches, an dem die Mahlzeit eingenommen wurde.
    Aber es hätte ihm auch ein noch kleinerer Ausschnitt genügt. Ganz genau in seiner Blicklinie, wie üblich am Kopfende der Tafel, um mit der linken Hand keinen Sitznachbarn zu behindern, saß Enrica und aß. Um

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