Der Fruehling des Commissario Ricciardi
möchtest du eigentlich noch in dieses Stück gehen? Wir könnten auch gleich im Souffleurkasten Platz nehmen, den Text kennen wir ja auswendig. Alle reden über uns, wir sind das Stadtgespräch. Gestern im Gambrinus hat Alessandra Di Bartolo zu mir gesagt: ›Du verstehst doch was vom Theater, kannst du mir vielleicht ein interessantes Stück empfehlen? Man hat mir gesagt, dass du und Emma in der Hinsicht nichts anbrennen lasst!‹ Das hat sie gesagt: nichts anbrennen lasst! Was sie mir damit wohl zu verstehen geben wollte?«
Die Frau, mit der sie sprach, war jung und elegant. Die schwarzen Haare waren kurz geschnitten, wie es gerade in Mode war, sie hatte schneeweiße Haut und ein leicht vorstehendes Kinn, das auf Entschlossenheit und Willensstärke hindeutete.
Sie drehte sich kurz um, um Marisa anzusehen, und verfolgte gleichzeitig das Geschehen auf der Bühne weiter.
»Hör mal: Wenn du nicht mehr mitkommen möchtest, sag’s klar und deutlich. Ich finde jemand anderen. Ich kenne genug Leute, die sich gerne mit mir zeigen würden. Und dann sag’ dieser dummen Gans von Alessandra und den anderen Gänsen, die sich bei ihr angeblich zum Canastaspielen treffen, bloß um über andere Leute herzuziehen, dass sie sich an mich persönlich wenden sollen, wenn sie Fragen zu stellen haben.«
Angesichts der Heftigkeit dieses Angriffs versuchte Marisa, sie zu beschwichtigen.
»Emma, wir beide sind nun schon so lange befreundet. Schon unsere Mütter waren Freundinnen und hätten wir Kinder gehabt, wären sicher auch sie Freunde gewesen. Aber eben darum muss ich es dir sagen: Du machst dich zum Gespött der Leute. Ich sage nicht, dass du keinen Spaß haben sollst, das würde mir nie einfallen, du weißt ja, was ich selbst so alles anstelle, aber ein bisschen mehr Diskretion könnte nicht schaden.«
»Diskretion? Und wozu, wenn ich fragen darf? Was mache ich denn Verbotenes? Ich schau mir ein Stück an, das ich schon gesehen habe: na und? Ist das ein Freibrief für diese Schlangen, so gehässig über mich herzufallen?«
»Also erstens schaust du dir dieses Stück an zwei bis drei Abenden pro Woche an, seit es auf dem Spielplansteht, und mindestens jedes dritte Mal gemeinsam mit meiner Wenigkeit, und ich mache mich damit zum Affen, bloß um dich im Auge zu behalten. Und zweitens verbringst du mittlerweile mehr Nächte außer Haus als daheim: Das brauchst du gar nicht erst abzustreiten, weil der Mann von Luisa Cassini dich zweimal um acht Uhr morgens in Santa Lucia gesehen hat, als du gerade auf dem Heimweg warst und er zur Arbeit ging.«
Sie streckte ihre Hand nach der ihrer Freundin aus und drückte sie.
»Mal ganz im Ernst, Emma: Ich mache mir Sorgen um dich. Du warst immer die Starke von uns beiden. Mein Vorbild. Du bist eine Serra di Arpaja, hast einen einflussreichen Mann, der dich liebt: Gut, er ist älter als du, na und? Wusstest du das nicht, als ihr geheiratet habt? Kein Mensch verlangt von dir, deine ... Vergnügungen aufzugeben, aber bitte bleib diskret! Und geh danach zurück nach Hause. Zerstöre nicht eine gesellschaftliche Stellung, um die eine Menge Leute dich beneiden.«
Emmas Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.
»Ach, Marisa, wenn du nur wüsstest. Es ist für mich zu spät, um umzukehren. Es ist leider zu spät.«
Im selben Moment setzte das Orchester ein und der Vorhang gab die Bühne frei.
XXI
Als Ricciardi am nächsten Morgen im Polizeipräsidium die letzten Treppenstufen hochstieg, überraschte ihn der Anblick Maiones, der auf dem Stuhl vor der Tür zu seinem Büro eingeschlafen war.
»Maione? Was machst du denn hier – um diese Uhrzeit?«
Der Brigadiere sprang mit einem Satz auf, warf den Stuhl um, verlor seinen Hut, fing ihn im Hinunterfallen auf, fluchte, hob den Stuhl auf, salutierte mit dem Hut in der Hand, den er sich dadurch an die Stirn knallte, fluchte wieder, setzte sich den Hut auf und rief »Jawohl!«.
Ricciardi schüttelte den Kopf.
»Es ist mir ein Rätsel, was mit dir los ist: Einmal kommst du blutverschmiert und zu spät ins Büro, und am nächsten Tag sitzt du hier schlafend um sieben Uhr morgens.«
»Keine Sorge, alles bestens, Commissario, ich hab’ bloß nicht gut geschlafen und mich gefragt, ob Sie wohl schon mit Ihren ganzen Zahlen fertig sind. Ich hab’ mir gesagt, ich geh’ lieber mal hin und helfe ihm, denn der geht ja doch nicht nach Hause, bevor er nicht fertig ist, geh’ ich also mal hin, hab’ ich gedacht ...«
»Ist schon gut, Maione. Kannst mir
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