Der Fruehling des Commissario Ricciardi
möchtest du denn wissen? Du weißt ja, dass ich die Toten zum Reden bringe: Vor mir haben sie keine Geheimnisse; wenn sie etwas zu sagen haben, flüstern sie’s mir ins Ohr, und ich entscheide, ob ich’s dir später berichte.«
Maione, der sich die makabre Szene lebhaft vorstellen konnte, musste kichern. Ricciardi verzog keine Miene, sein Ausdruck blieb unergründlich.
Willst du etwa behaupten, dass die Toten mit dir sprechen?, hätte er gerne fragen wollen. Du hast nicht die leiseste Ahnung davon, was dieser Satz bedeutet. Weißt du, dass mich jeden Morgen zwei Tote auf der Treppe des Präsidiums erwarten? Und die Alte mit dem gebrochenen Genick, die du heute Morgen zerlegt hast? Die höre ich wieder und immer wieder ein merkwürdiges altesSprichwort aufsagen. Und du behauptest allen Ernstes, dass die Toten mit dir sprechen?
»Die Calise zum Beispiel. Sie war krank, hatte eine böse Art von Knochentumor. Sie hätte noch maximal sechs bis acht Monate zu leben gehabt. Dein Mörder hat seine Energie unnötig verschwendet, er kam ihrem natürlichen Tod nur ganz kurz zuvor.«
Sechs bis acht Monate, dachte Ricciardi. Findest du das kurz? Das sind ein Frühling, ein Sommer und ein Herbst. Blumen, der Duft von jungem Gras und der Geruch des Meeres an den Klippen, der erste frische Nordwind, geröstete Kastanien an der Straße. Die ersten Schneeflocken, die Freude der Kinder, die sich nackt hineinfallen lassen, in den Himmel schauen und die Wolken beobachten. Regennasse Straßen, das Klappern der Pferdehufe. Die Rufe der fliegenden Händler. Vielleicht hätte sie Weihnachten noch erlebt und die Dudelsackpfeifer auf den Plätzen und in den Häusern gehört.
Sechs bis acht Monate. Hätten der unglückseligen Alten in all ihrer Habgierigkeit und Verlogenheit für die bescheidenen Träume, die sie den anderen schenkte, nicht auch sechs bis acht Minuten zugestanden, wenn das Leben sie ihr gewährt hätte?
»... und ihre Knochen waren aus Glas, mürbe wie ein von Holzwürmern zerfressenes Möbelstück. Seine Kraft hätte sich der Täter sparen können. Weißt du, wie viel die Leiche wog? Fünfundvierzig Kilo.«
»Was ist mit ihren Verletzungen? Was hast du da gefunden, Bruno?«
»Die Verletzungen, sagst du. Eingedrücktes rechtes Scheitelbein, gleichzeitiger Verlust von Hirnmasse, rechtesOhr zerquetscht; mehrere gebrochene Halswirbel, verursacht durch drei oder mindestens zwei Schläge. Eingedrückter rechter Jochbogen, das Auge ist regelrecht zerplatzt.« Der Arzt nahm zum Aufzählen die Finger zu Hilfe, ohne dabei seine Zigarette aus der Hand zu legen, die er auf die ihm eigene Weise hielt. »Und dann natürlich die Tritte.«
»Das heißt also, das war noch nicht alles?«
»Nein, Brigadiere, leider nicht. Zum Glück war von der Armen da schon nichts mehr übrig als ein Haufen Lumpen und sie hatte sich bereits dort eingefunden, wo sie jetzt ist, im Nichts nämlich, wenn Sie mich alten Materialisten fragen. Alle Rippen gebrochen, tatsächlich alle, mit Durchbruch der Lungen, des Magens, zerquetschte Milz und so weiter. Es gibt keine einzige Verletzung durch Gewalteinwirkung, die sie nicht hatte. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr aufzuschreiben, was ich bei ihr gefunden habe, das könnt ihr mir glauben. Meine Arbeit war mir plötzlich zuwider; da hab’ ich sie zugenäht, alles eingepackt und bin raus eine rauchen gegangen. Ich brauchte ein bisschen frische Luft.«
Die Männer schwiegen alle drei eine Weile und sahen zum Fenster hinaus. Plötzlich fanden sie es nett, das Treiben hinter der Glaswand zu beobachten: die umherrennenden Kinder, die schwatzenden Frauen und die Männer, die sich gegenseitig bestahlen, indem sie Geschäfte vortäuschten. Trotzdem war es Leben. Und das Leben war besser als der Tod.
»Jetzt aber mal abgesehen von diesen ganzen Verletzungen und Brüchen: Ist dir was aufgefallen, das uns weiterhelfen könnte? Zum Tathergang vielleicht?«
Modo kratzte sich die Bartstoppeln, er dachte nach.
»Nun ja, die Frau ist ziemlich genau zwischen zehn und Mitternacht gestorben. Der erste Schlag, ihr Todesstoß, erfolgte von oben nach unten, wie aus der Art des Schädelbruchs zu ersehen ist. Dass sich die Fraktur rechts befindet, kann zweierlei bedeuten: Entweder war der Täter Linkshänder und stand vor dem Opfer, oder er war Rechtshänder und der Schlag kam von hinten. Ich tendiere zur zweiten Möglichkeit, weil der erste Tritt der Frau das Genick gebrochen und sie hier, am Halsansatz, getroffen hat.
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