Der Fruehling des Commissario Ricciardi
alberne und mickrige Nebenrollen verbannt. Man warf ihn nicht raus, ganz im Gegenteil, er war sogar sehr gefragt, denn es kam den Intendanten äußerst gelegen, bei jeder Aufführung mit fünfzig bis sechzig Verehrerinnen im Zuschauerraum rechnen zu können. Aber wenn die Leiter einer Schauspieltruppe ihn demütigen konnten, taten sie das stets mit Vergnügen.
Der jetzige Regisseur erwies sich als der schlimmste von allen.
Irgendwann wollte Attilio einfach nur noch weg. Zum Teufel mit dem Ruhm und der Chance seines Lebens! Doch im Falle eines Vertragsbruchs hätte er eine beachtliche Geldstrafe zahlen müssen und konnte es sich deshalb nicht erlauben, diesem frustrierten Hanswurst all seinen Ärger spüren zu lassen. Also ging Abend für Abend bei jeder Aufführung der Nervenkrieg weiter. Mit der Zeit war seine Rolle zu einer komischen Figur geworden: Sobald er die Bühne betrat, begannen die Leute zu kichern und lachten ungeniert bei jedem Satz, den er sagte.
Der Maestro war ein widerlicher Mensch, aber dennoch ein Genie: Er verstand es, seinem Stück trotz der immer gleichen Sätze einen völlig anderen Ton zu geben und gleichzeitig die Spannung darin zu variieren. So durchlebte Attilio den Albtraum der eigenen Zersetzung, seines Rufmords als Künstler, von dem er sich nie wieder erholen würde.
Genau in jener frustrierenden Zeit lernte er einevornehme Dame kennen: Sie war reich, schön und willensstark genug, um sich von ihm in seinen Bann ziehen zu lassen, und bald konnte er mit ihr machen, was er wollte. In ihr sah er die wahre Freikarte für Freiheit und Ruhm. Es war nicht schwierig gewesen, sie zu verführen, aber Attilio, der die Gedanken und Wünsche der Frauen lesen konnte, erkannte bei ihr noch kein Anzeichen der Loslösung, der vollkommenen Selbstaufgabe, die er brauchte, um sein Leben zu ändern.
Er hatte die üblichen Waffen gebraucht, sich ihr gegenüber sehr geschickt mal zärtlich und leidenschaftlich, mal unnachgiebig und desinteressiert gezeigt: Das alles war nötig, um sie an ihn zu binden. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit.
Attilio vernahm das idiotische Gelächter des Publikums, einer Ansammlung von Marionetten, deren Fäden der Maestro zog, und wusste, dass die bewundernden Blicke von Emma Serra di Arpaja ganz allein auf ihm ruhten.
Ricciardi träumte von seiner Mutter. Er hätte an den Fingern einer Hand abzählen können, wie oft ihm das bisher passiert war. Sie war achtunddreißig Jahre alt gewesen, als sie zu Beginn des Krieges gestorben war; er selbst war seit sieben Jahren im Internat und sah sie bloß zweimal im Jahr, zu Weihnachten und in den Sommerferien, etwa 10 Tage lang. Er erinnerte sich an sie sehr undeutlich als an eine kranke, zierliche Frau, die in einem Bett voller Kissen lag.
Sie hatten ihn zu ihr gebracht, um sich von ihr zu verabschieden, als abzusehen war, dass sie nicht wieder genesenwürde: So allein mit ihr im Zimmer hatte er nichts zu sagen gewusst und stattdessen ihre Hand gehalten. Er dachte, sie schlafe, doch sie drückte seine Hand mit unvermuteter Kraft, tat ihm dabei fast weh. Dann lockerte sich ihr Griff und sie war entschlafen. Einen Augenblick zuvor gab es sie noch, im nächsten Augenblick war sie dahingegangen.
Mit fünfzehn Jahren hatte seine Gabe sich ihm schon viele Male offenbart und er hatte der mit einem gewaltsamen Tod verbundenen Qual nicht aus dem Weg gehen können. Viele andere Sterbende, zu viele, sollte er noch sehen.
Im Traum befand er sich immer noch in jenem tristen Zimmer, Rosa und Maione sahen ihn an und er schaute zu seiner Mutter, deren Augen geschlossen waren. Nach dem Blütenduft zu schließen, musste der Frühling wohl endgültig da sein. Er wartete, ohne recht zu wissen worauf, vielleicht nur darauf, dass seine Mutter aufwachen würde. Plötzlich fing sie an zu sprechen:
»Der Herrgott ist kein Händler, der seine Schulden samstags zahlt.«
Sie sagte es mit rauer, krächzender Stimme. Er bemerkte, dass ihr die Zähne fehlten und ihre langen Haare von weißen Strähnen durchzogen waren.
Auf einmal öffnete seine Mutter die Augen, sie waren groß und grün wie seine eigenen; sie drehte langsam den Kopf, ihre Halswirbel knirschten dabei leicht, was sich im Traum anhörte wie eine Reihe kleiner Explosionen. Sie starrte ihn ausdruckslos an. Dann begann sie leise zu weinen, man hörte kein Schluchzen, und ihre Tränen rannen die Wangen herab und benetzten das Bett.
Er drehte sich zu Rosa und Maione um: Auch sie weinten.
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