Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Und wenngleich die Knochen der Calise zerbrechlich waren, war hier doch sehr viel Kraft im Spiel. Ich kann es natürlich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich denke dabei schon eher an einen Mann. Oder an eine junge Frau, die sehr zornig war.«
»Gab es Spuren an den Verletzungen? Abdrücke von Ringen, ungewöhnliche Schnitte oder etwas in der Art?«
»Nein, gar nichts. Der Täter trug auf jeden Fall Schuhe. Das Opfer hatte Schürfwunden, da rieben Haut, Leder und Sohlen gegeneinander. Wenn ich mich recht erinnere, sah man auf dem Teppich doch auch ziemlich eindeutige Spuren, oder? Da habt ihr’s«, und er zeigte hinter die Glasscheibe, »ihr müsst jemanden mit schmutzigen Schuhen suchen.«
Sie schauten wieder nach draußen. Jetzt sah man aus unerfindlichen Gründen mehr finster dreinblickende als lächelnde Menschen. Als ob es draußen nur so von Mördern wimmeln würde, die vor Hass schäumten und blutverschmierte Schuhe trugen.
»Irgendjemand da draußen, mein lieber Ricciardi, mein lieber Brigadiere, hatte eine ordentliche Portion Wut imBauch, die er an der armen Alten ausgelassen hat. Er hatte kein Mitleid und hat keinen Moment lang glauben können, dass sie vielleicht überleben würde. Gewiss hat die arme Frau nicht mitbekommen, was geschah, sie dürfte nicht gelitten haben, alles war ganz schnell vorbei. Kein Schrei, nichts. Wer da zugeschlagen hat, musste vom Teufel besessen sein. Der wollte sich seinen Zorn vom Hals schaffen. Er hat nicht lange gefackelt und kurzen Prozess gemacht – so war er alle Sorgen los.«
»Nein, Bruno, die Sorgen war er nicht los, ganz bestimmt nicht. Er wird immer wieder an das denken müssen, was er getan hat. Und den Moment verfluchen, in dem er die Beherrschung verlor, glaub’ mir.«
Ricciardis Worte kamen einem Flüstern gleich, er öffnete kaum den Mund beim Reden, starrte in seine noch nicht angerührte Kaffeetasse; sein Rücken berührte die Stuhllehne, eine Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, die Hände steckten in den Taschen des offenen Mantels.
Seine grünen Augen blickten ins Leere; sie schienen etwas zu sehen, was kein anderer sah, und genau so war es.
Die beiden anderen schauderten.
XXIII
Attilio Romor trat in der Mitte des ersten Aktes auf. Er spielte einen schönen, oberflächlichen und von sich eingenommenen Mann, der überzeugt davon war, auf der ganzen Welt von niemandem übertroffen zu werden. Bis auf die Oberflächlichkeit unterschied er sich im wirklichen Leben nicht allzu sehr von seiner Rolle, oder glaubte das zumindest.
Er betrat die Bühne mit einem kleinen Sprung undplatzte dabei mitten in eine amüsante Unterhaltung zwischen dem Hauptdarsteller und der Protagonistin. Er musste sagen: »Hier bin ich, meine Herrschaften, zu Ihren Diensten!« und dann mit ausladender Geste und breitem Grinsen den Hut abnehmen. Der Hauptdarsteller, der das Stück auch geschrieben hatte und Regie führte, gab sich daraufhin erschrocken und stolperte nach vorne, wobei er einen Stuhl umwarf.
Die Zuschauer sollten über diese Ungeschicklichkeit lachen, was sie meist auch brav taten. Wenn allerdings das weibliche Publikum, das deutlich überwog, ganz verzückt von Attilios Schönheit dasaß, purzelte der Stuhl in einem peinlichen Schweigen auf den Boden. Der Autor duldete nicht, dass jemand anders ihm die Show stahl. Und rächte sich folglich. Ach, und wie er sich rächte: Attilio fühlte sich permanent von ihm verfolgt. Während der Proben ließ er ihn ein Dutzend Mal dieselbe nichtssagende Szene wiederholen, bei den langen wöchentlichen Treffen verpflichtete er ihn, Frauenrollen zu lesen, »um ihn kleinlaut zu halten«, wie er mit seiner Bühnenstimme verkündete, um ihn vor der Truppe zu demütigen.
Attilio wusste, dass er der bessere Schauspieler war; er vermutete, dass auch der andere es wusste und ihn deshalb abstrafte. Er war sowohl talentierter als auch viel, viel schöner.
Seine Haare waren lang und schwarz wie das Fell eines Panthers und genauso schwarz wie seine Augen, er hatte ein markantes Kinn, war groß, schlank, breitschultrig, hatte eine kräftige und volle Stimme. In den Blicken der Frauen las er ihr Verlangen, die Leidenschaft, die ihnen in der Brust schlug; er sah es an ihren Mündern, die sichöffneten wie aufblühende Knospen, an den Schweißperlen auf ihren Lippen. Es war immer schon so gewesen. Die Männer hassten ihn, die Frauen lagen ihm zu Füßen.
Und weil in der Theaterszene Männer die Entscheidungen trafen, wurde Attilio in
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