Der Fruehling des Commissario Ricciardi
keinen Dienst hatte, aber nachsehen wollte, wie es Iodice geht. Er hat’s ihnen gesagt.«
Ricciardi schüttelte den Kopf.
»So was Verrücktes. Sich umzubringen, mit drei Kindern. Er muss wirklich verzweifelt gewesen sein. Aber warum nur? Falls er sie getötet hat, hätte er sich doch besser gestellt. Das ergibt für mich keinen Sinn. Wenn jemand einen anderen so grausam töten kann, wie die Calise ermordet wurde, fehlt ihm normalerweise das Feingefühl dafür, sich umzubringen. Und wer sich so schämt, dass er sich deshalb umbringt, ist nicht grausam genug, um jemanden zu Tode zu treten.«
Maione hörte aufmerksam zu.
»Ehrlich gesagt leuchtet’s mir auch nicht ganz ein, dass es Iodice gewesen sein soll. Nach der Verzweiflung seiner Mutter und vor allem der Frau zu schließen, muss er ja ein wirklich netter Kerl gewesen sein. Aber wieso sollte er sich umbringen, wenn er’s nicht getan hat?«
»Vielleicht hat er geglaubt, dass man ihn anklagen würde und er seine Unschuld nicht beweisen könnte. Vielleicht hatte er was anderes ausgefressen. Vielleicht die Anspannung. Oder er war’s tatsächlich. Wir müssen in jedem Fall weiter ermitteln und sehen, ob wir Beweise finden, egal wie. Der Schmerz seiner Frau zählt nicht als Beweis vor Gericht.«
Noch bevor Maione antworten konnte, klopfte es an der Bürotür und Camarda steckte seinen Kopf ins Zimmer.
»Commissario, Brigadiere, entschuldigen Sie die Störung. Hier draußen ist jemand, der mit Ihnen sprechen möchte, die beiden Iodice-Frauen, Mutter und Ehefrau.«
Ricciardi und Maione gingen den zwei Frauen, die kurz darauf das Büro betraten, entgegen. Iodices Frau war der personifizierte Schmerz, man sah ihr an, dass sie sich noch nicht mit ihrem Schicksal abfinden konnte: Ihre feinen Gesichtszüge waren von vierundzwanzig Stunden Wachen und ununterbrochenem Weinen gezeichnet, ihre Augen waren geschwollen und die Lippen gerötet. Toninos Mutter, die immer noch ihr schwarzes Tuch auf dem Kopf trug, wirkte wie eine Figur aus einer griechischen Tragödie – das Gesicht ausdruckslos, die Augen leer. Nur ihre wachsbleiche Haut ließ die Höllenqualen erahnen, die sie durchlitt.
Der Besuch überraschte die beiden Polizisten; die Frauen hätten ins Krankenhaus gehört, um sich dort um den Transport der Leiche zum Friedhof zu kümmern. Vielleicht, dachte Ricciardi, wollten sie dafür die Erlaubnis der Polizei einholen, doch die würde gar nicht nötig sein; durch die Operation vom Vortag waren die Gründe des Ablebens zweifelsfrei geklärt, eine Autopsie war überflüssig. Er bedeutete den Frauen, sich zu setzen, doch sie blieben stehen. Daraufhin wandte er sich an die Ehefrau.
»Mein Beileid, Signora. Ich verstehe Ihren Schmerz und versichere Ihnen unser Mitgefühl. Falls wir etwas für Sie tun können, müssen Sie es nur sagen.«
Concetta tat einen Schritt nach vorn und atmete tief durch.
»Commissario, meine Schwiegermutter und ich haben heute Nacht lange nachgedacht. Zum einen möchten wir natürlich, dass Tonino ... mein Mann, nun ja, in Frieden ruhen kann. Dass über ihn nicht mehr gesprochen wird, vor allem nicht hier drin, Sie entschuldigen, Commissario. Dann haben wir allerdings an die Kinder gedacht. Drei kleine Kinder, die noch ihr ganzes Leben vor sich haben. Und Toninos Namen tragen müssen. Deshalb darf er nicht beschmutzt sein.«
Ricciardi und Maione sahen sich an. Von ihren Gefühlen überwältigt, hatte Concetta aufgehört zu sprechen. Ihre Schwiegermutter, die nur einen Schritt hinter ihr stand, legte ihr die knochige Hand auf die Schulter. Sie seufzte und sprach weiter.
»Bei uns sagt man, dass man die Dinge spürt. Dinge passieren und man sieht mit eigenen Augen, wie sie passieren, und versteht sie. Manchmal wird dir auch davon erzählt, du hörst es mit den Ohren und verstehst es. Dann wieder siehst du manches und manches nicht, aber die Empfindung sagt dir trotzdem, was geschehen ist. Manchmal allerdings gibt es Dinge, die man weder sieht, hört, noch denkt, und trotzdem versteht man alles. Das passiert mit den Menschen, die man im Herzen trägt«, und sie presste eine von Arbeit und Tränen gerötete Hand an die Brust, »und in diesen Fällen irrt man sich nicht. Man kann einfach nicht irren.«
Ricciardi schaute der Frau direkt ins Gesicht und seine grünen Augen waren klar und ausdruckslos. Concetta hielt seinem Blick aus der Tiefe ihrer Überzeugung herausstand, ihre Augen glichen zwei in Rot eingetauchten schwarzen
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