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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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verflixten Visionen verblassten auch die Spuren des Mörders, erloschen nach und nach, weil sie von neuen Gedanken, neuen Gefühlen überlagert wurden. Außerdem wurden die Schuldigen durch die Arbeit der Ermittler gewarnt und konnten Gegenmaßnahmen ergreifen.
    Und als ob das noch nicht reichen würde, waren die Fensterläden gegenüber auch am Abend zuvor geschlossen geblieben; vielleicht litt Enrica unter einem Anfall ihrer geheimnisvollen Krankheit, hatte er sich gedacht. Oder sie war so beleidigt, dass sie nicht einmal mehr seine Silhouette am Fenster sehen wollte.
    Im Dunkeln zu tappen erzeugte in seinen Gedanken und in seinem Herzen einen Sturm, den er nicht zu besänftigen vermochte.
    Wie immer war er früh zur Arbeit gekommen, viel früher als seine Kollegen. Die Wache am Eingang döste diesmal nicht, sondern kam ihm salutierend entgegen.
    »Guten Tag, Commissario. Da ist eine junge Frau, die mit Ihnen sprechen möchte. Ich habe sie nach oben geschickt, sie wartet vor Ihrem Büro.«
    Ricciardi schlug das Herz bis zum Hals, weil er glaubte, dass von Enrica die Rede sei. Nachdem er dem Wachmann zugenickt hatte, der ihn aufgrund seines erschrockenen Gesichtsausdrucks verwirrt anstarrte, ging er mit gesenktem Blick in Richtung der breiten Treppe. Dann sah er bestürzt und hoffnungsvoll auf.
    Doch es war nicht sie.
    Das Mädchen, das dort auf der kleinen Bank im Korridor wartete, war sehr jung. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor, Ricciardi glaubte, sie erst kürzlich gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern, wo. Sie war schlicht gekleidet, trug einen dunklen und für die milden Temperaturen zu schweren Mantel und ein unauffälliger Hut saß auf den zusammengebundenen Haaren. In der Hand hielt sie ein in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen. Als sie ihn sah, stand sie auf, ohne ihm jedoch entgegenzukommen. Er blickte sie fragend an. Sie sprach als Erstes.
    »Guten Tag, Commissario. Ich wollte Ihnen etwas mitteilen bezüglich des ... des Todes von Carmela Calise.«

    Auch Maione traf an jenem Morgen früh ein. Sein bierseliges Plauderstündchen mit dem Pförtner der Serra diArpaja hatte ein paar Punkte zutage gebracht, über die er mit dem Kommissar so früh wie möglich sprechen wollte; außerdem gelang es ihm in letzter Zeit nur auf der Arbeit, zur Ruhe zu kommen.
    Am Abend zuvor war er eine Weile am Totenbett des Vaters des Mädchens stehen geblieben, ohne das ungute Gefühl loszuwerden, dass irgendetwas nicht stimmte. Er hätte allerdings nicht sagen können, was. Vielleicht die würdevolle Gefasstheit Rituccias, die nicht eine einzige Träne vergossen hatte und weit von dem Bett entfernt saß, wahrscheinlich, weil die Leiche sie ängstigte; vielleicht die geringe Anteilnahme der Arbeitskollegen, die mit dem Hut in der Hand und verlegen mit den Füßen scharrend dastanden und es kaum abwarten konnten, endlich zu gehen; vielleicht die aufrichtige Anteilnahme Filomenas, als sie das Mädchen beruhigte und ihr sagte, dass sie für sie von nun an wie eine Tochter sein würde. Vielleicht auch der Umstand, dass alle ihn mit krankhafter Neugier anstarrten, als wäre seine Anwesenheit ähnlich bedeutungsvoll wie Filomenas zerstörte Schönheit.
    Fest stand, dass er, sobald er konnte, nach Hause gegangen war. Zuvor hatte er dem Mädchen, Gaetano und Filomena noch versprochen, sich mit dem Lohnherren des verunglückten Maurers in Verbindung zu setzen und sich um die Auszahlung der fälligen Entschädigung an die Tochter zu kümmern.
    Als er, endlich einmal ungefähr zur Abendessenszeit, zu Hause angekommen war, wurde er mit Lucias eisigem Schweigen konfrontiert. Es war nicht die übliche Stille, die ihren Erinnerungen geschuldet war, das hatte er sofort bemerkt. Diese hier enthielt eine neue Gereiztheit, ähnlichderjenigen bei ihren Reibereien in den ersten Ehejahren: auf den Tisch geknallte Teller, weder Tischtuch noch Servietten, kalte Suppe, die Reste der Kinder vom Mittagessen. Auf die einzige von ihm gestellte Frage, ob seine Frau sich vielleicht nicht wohl fühle, erntete er einen bitterbösen Blick und ein trockenes, fast schon gezischtes »mir geht’s ausgezeichnet«. Basta. Sie hatten kein weiteres Wort miteinander gewechselt und den Rest des Abends in unterschiedlicher Gesellschaft verbracht: sie in der ihres unterdrückten Zorns, er in der seines vagen Schuldgefühls.
    Am nächsten Morgen, der für Maione heftige Kopfschmerzen mit sich brachte, hatte er das Haus erleichtert verlassen und nicht

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