Der Frühling - Hyddenworld ; 1
ragten zwei große Bäume empor. Im Abendlicht boten sie ein prächtiges Bild.
»Telefon«, sagte sie.
»Wer ist denn dran?«, fragte er.
Aber sie war bereits wieder ins Haus gegangen.
Arthur Foale folgte ihr und nahm ihr den Hörer aus der zitternden Hand.
»Ja?«, sagte er vorsichtig.
»Professor Foale?«
»Äh … ja?«
Der Anrufer sprach sehr leise.
»Könnten Sie bitte lauter sprechen?«
Der Anrufer fuhr fort, doch die Stimme wurde kaum lauter, nur deutlicher. Eigentlich war sie nicht mehr als ein Flüstern und hätte ebenso einem Mann wie einer Frau gehören können. Sie sprach mit einem starken Akzent, und sie klang alt und wie aus einer anderen Welt.
Arthur Foale hörte genau zu. Zunächst wurde er nicht schlau daraus, dann ging ihm ein Licht auf. Der Kopf begann ihm zu schwirren. Er gab Margaret ein Zeichen, zu ihm zu kommen und mitzuhören.
»Verstehen Sie? Der Junge ist auf dem Weg. Er ist jetzt bereit, und er muss kommen. Hier ist es zu gefährlich. Er ist auf dem Weg. Alles ist vorbereitet.«
»Ist er …?«, begann Arthur zögernd.
»Er ist der Riesengeborene.«
»Aber wohin? Wohin wird er kommen?«
Darauf erhielt er keine Antwort.
»Wann?«
»Morgen.«
»Morgen?«, wiederholte Arthur leise.
»Tun Sie nichts. Die Wurd wird entscheiden. Die Wurd
…«
»Aber …?«
»Mehr gibt es nicht zu sagen. Der Junge ist auf dem Weg nach Englalond. Es ist so weit.«
In der Leitung wurde es still.
7
IN DIE MENSCHENWELT
D er Junge, der wie ein Sechsjähriger aussah, stand am nächsten Morgen in aller Frühe wie aus heiterem Himmel vor der Tür eines Kinderheims in den North Yorkshire Moors im Nordosten Englands. Draußen waren die Hufschläge eines Pferdes zu vernehmen gewesen, ehe unerwartet die Türklingel anschlug, doch als geöffnet wurde, war nur in weiter Ferne im Moor ein prächtiger Schimmel zu sehen, dessen weiße Mähne und weißer Schweif die Strahlen der Morgensonne einfingen.
Der Junge sah den Betreuern des Kinderheims mit einem Lächeln entgegen, das sie erwiderten, und als sie von seinem Gesicht aufschauten, war der Schimmel verschwunden, und nur ein weißer Wolkenstreifen am strahlend blauen Himmel erinnerte noch daran, dass er da gewesen war.
Seine Ankunft am ersten März fiel mit den ersten Frühlingstagen zusammen, die so mild und warm waren, dass in den darauf folgenden Wochen frühzeitig die Schlehenblüte einsetzte, erste Keime aus der vom Februarschnee noch feuchten Erde sprossen und die Knospen an den Bäumen prall und klebrig wurden, während die Vögel sich paarten und fleißig Nester bauten.
Der Junge war durchschnittlich groß, aber stämmig und schien vor Kraft und Gesundheit zu strotzen. Wer immer ihn ausgesetzt hatte, er hatte daran gedacht, ihn warm anzuziehen, denn über die North Yorkshire Moors fegten kalte Winde. Doch seine Kleider waren irgendwie merkwürdig und ohne Markenetiketten. Sie waren altmodisch und handgeschneidert, als hätte ihn jemand aus längst verflossenen Zeiten eingekleidet. Außerdem trug er einen Rucksack in passender Kindergröße aus altem, abgewetztem Leder, wunderschön vernäht und ganz anders als alles, was es heutzutage im Laden zu kaufen gab. Er wirkte wie aus einer anderen Zeit und Kultur, war mitSicherheit viel älter als sein Besitzer und sah aus, als hätte er schon viele Reisen mitgemacht.
Am merkwürdigsten war, dass der Rucksack nichts enthielt bis auf ein zerlumptes, aber offensichtlich innig geliebtes Plüschtier, ein Pferd, das früher einmal weiß gewesen war und jetzt recht schmutzig wirkte. Der Junge ließ das Personal den Rucksack untersuchen, aber das Pferd gab er nicht aus der Hand.
Auf der Innenseite der Rucksackklappe standen ein paar Ziffern und ein Name, allerdings in einer deutschen gotischen Schrift. Der Name lautete »Yakob«, doch als sie den Jungen so ansprachen, schüttelte er energisch den Kopf. Trotz aller Bemühungen, ihm Auskünfte zu entlocken, blieb er stumm, und so nannten sie ihn Jacob oder meist nur kurz Jack.
In keiner nationalen oder internationalen Vermisstenliste war ein Kind aufgeführt, dessen Beschreibung auf ihn passte. Trotzdem wurde die Presse vorläufig nicht eingeschaltet …
Just zu diesem Zeitpunkt hatten die Zeitungen ohnehin ein dankbareres Thema auszuschlachten als ein vermisstes Kind. Die Kapriolen des Wetters. Überall auf der Welt war es aus den Fugen geraten, hielt sich weder an geografische Breite noch Jahreszeit und gebärdete sich, als wollte es der Menschheit
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