Der fünfte Attentäter: Thriller (German Edition)
durch nichts von den meisten anderen Obdachlosen auf der Straße. Seine Strickmütze war zerfetzt und alt, er sah niemanden an, und sein zerknittertes Jackett und seine zerrissene Hose sahen aus, als hätte er sie aus dem Müll gefischt. Aber als er die nordöstliche Ecke der 6 th Ecke Pennsylvania erreichte, als sein Fuß den Randstein berührte, wo früher das National Hotel gestanden hat, fiel dem Fahrer die Uhrzeit auf. 22:11 Uhr.
Genau der Moment, in dem John Wilkes Booth abgedrückt hatte.
Der Fahrer bremste an der Ecke 6 th Street und kippte nach vorne, als der Wagen abrupt zum Stehen kam. Der Obdachlose blickte nicht hoch.
»Du bist nicht allein auf der Welt!«, rief der Fahrer des Wagens, nachdem er das Beifahrerfenster heruntergefahren hatte.
»Clementine?«, fragte der Obdachlose und starrte die Frau hinter dem Steuerrad an.
Clementine nickte und starrte ihrerseits den Obdachlosen an. Nico, ihren Vater.
»Du musst einsteigen«, sagte sie und öffnete die Zentralverriegelung.
Nico wandte sich zur Seite und murmelte etwas, so als würde er mit jemandem neben ihm reden. Mit seinem imaginären Freund.
»Nico …«
Er sprach ein kurzes Gebet, blickte hinauf in den Himmel, bedankte sich bei Gott und murmelte dann ein stummes Amen. Dann öffnete er die Wagentür und setzte sich auf den Beifahrersitz. Er roch nach Fisch und nassem Müll.
Während Clementine das Steuerrad umklammerte, konnte sie ihren Blick nicht von ihm losreißen. Es überwältigte sie, dass sie sich jedes Mal, wenn sie sich in dem Dunstkreis ihres Vaters befand, gleichzeitig alt und jung fühlte.
»Woher wusstest du, dass ich hier sein würde?« Nico durchbohrte sie mit seinem Blick, als würde er versuchen, sie in chemische Einzelteile zu zerlegen.
»Ich bin deine Tochter«, erwiderte Clementine.
Nico machte Anstalten, sich abzuwenden, tat es aber nicht.
»Ich dachte, du wärst mit Beecher zusammen«, sagte er schließlich.
»Bin ich nicht.«
»Er wird nach mir suchen. Sie werden alle nach mir suchen.«
»Das ist mir klar«, erwiderte sie. »Ich bin trotzdem deine Tochter.«
Nico spürte, wie er schief grinste. »Ich brauche eine Rasur«, erklärte er.
»Dafür ist später noch Zeit«, antwortete sie, gab Gas und fuhr die 6 th Street entlang.
»Jetzt. Ich brauche jetzt eine Rasur«, erklärte er ihr, während er die Schaufenster und Straßenlaternen betrachtete. Es war schon so lange her, dass er außerhalb des Krankenhauses gewesen war.
Zehn Minuten später hielten sie kurz an einem Supermarkt. Nico wartete im Wagen, während Clementine einkaufen ging. Dann reichte sie ihm eine Sprühdose mit Rasierschaum, einen Beutel mit Wegwerfrasierern und eine Flasche Wasser.
»Du musst das nicht jetzt machen«, sagte sie, während sie weiterfuhren. Neben ihr nahm Nico den Deckel von der Dose mit dem Rasierschaum ab und sprühte sich etwas davon in die Hand.
Dann verteilte er rasch den Schaum auf seinen schwarzen Haaren und riss den Beutel mit Rasierklingen mit den Zähnen auf.
»Du musst das Wasser benutzen«, sagte sie zu ihm.
Nico kümmerte sich nicht darum. Er fing an seinem Nacken an, presste die Klinge auf seine Haut und zog sie hoch. Er rasierte einen Streifen des schwarzen Haares weg und hinterließ dabei eine kleine Schnittwunde.
»Du blutest«, sagte Clementine, bog rasch ab und fuhr in eine ruhige Seitenstraße, wo sie weniger auffallen würden. »Bitte, kann das nicht warten?«
Aber es konnte nicht warten. Nico ließ sich nicht anmerken, ob er Schmerzen hatte. Er reinigte die Klinge mit dem Wasser und machte weiter, arbeitete sich langsam nach oben hoch.
Clementine stellte den Motor ab und beobachtete ihn voller Entsetzen. Sie nahm an, dass er sich Sorgen machte, gesehen oder erkannt zu werden. Denn mittlerweile war sein Foto in allen Nachrichten. Aber als die Haarbüschel herabfielen, bemerkte sie, dass da etwas auf seinem Hinterkopf war, außer den Resten von Rasierschaum und den Blutspuren. Zuerst konnte sie nur den Rand sehen, eine dünne Linie. Sie war verschwommen und hellgrün.
»Ist das eine Tätowierung?« Fasziniert studierte Clementine die geschwungenen Linien. Langsam rasierte Nico seinen ganzen Schädel.
»Nein«, erwiderte er. »Es ist ein Symbol.«
Die Klinge entfernte das nächste Büschel schwarzen Haares von seinem nahezu kahlen Schädel. Er war jetzt in der Mitte rasiert, als hätte ein Rasenmäher eine gezackte Linie durch einen schwarzen Wald gezogen. Aber erst als Nico den Rasierer sinken
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