Der fuenfte Berg
Hause kam, traf er die Witwe auf der Schwelle des Hauses sitzend an.
»Was tut Ihr?«
»Ich habe nichts zu tun«, antwortete sie.
»Dann lernt etwas. Zur Zeit haben viele Menschen ihr Leben aufgegeben. Sie langweilen sich nicht, sie weinen nicht, sie lassen nur die Zeit verstreichen. Sie nehmen die Herausforderungen des Lebens nicht an, und das Leben fordert sie nicht mehr heraus. Ihr lauft diese Gefahr. Tut etwas, stellt Euch dem Leben, gebt Euch nicht auf.«
»Mein Leben hat wieder einen Sinn erhalten«, sagte sie, und blickte zu Boden. »Seit Ihr gekommen seid.«
Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er, daß er ihr sein Herz öffnen konnte. Doch er beschloß, es nicht zu riskieren - sie meinte sicher etwas ganz anderes.
»Tut etwas, unternehmt etwas«, sagte er, indem er das Thema wechselte. »So wird die Zeit zu Eurem Verbündeten und nicht zu Eurem Feind.«
»Was könnte ich lernen?«
Elia überlegte kurz.
»Die Schrift von Byblos. Sie wird nützlich sein, wenn Ihr eines Tages reisen müßt.«
Die Frau beschloß, sich mit Herz und Seele diesem Studium zu verschreiben. Sie hatte nie daran gedacht, Akbar zu verlassen, doch so wie er redete, könnte es bedeuten, daß er sie mit sich nehmen wollte.
Sie fühlte sich abermals frei. Wieder erwachte sie im Morgengrauen und ging lächelnd durch die Straßen der Stadt.
»Elia lebt immer noch«, sagte zwei Monate später der Kommandant zum Priester. »Du hast es nicht geschafft, ihn umzubringen.«
»Es gibt in ganz Akbar keinen Mann, der sich dafür hergibt. Der Israeli! hat die Kranken getröstet, die Gefangenen besucht, die Hungernden gespeist. Wenn jemand einen Streit mit dem Nachbarn hat, kommt er zu ihm, und alle nehmen seinen Richtspruch an, weil er gerecht ist. Der Stadthauptmann benutzt ihn im stillen, um seine eigene Beliebtheit zu vergrößern.«
»Die Kaufleute wollen keinen Krieg. Wenn der Stadthauptmann weiterhin so beliebt ist und es ihm sogar gelingt, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ein Frieden vorzuziehen ist, gelingt es uns niemals, die Assyrer von hier zu vertreiben. Daher muß Elia sterben.«
Der Priester wies auf den Fünften Berg, dessen Gipfel wie immer in Wolken gehüllt war.
»Die Götter werden nicht zulassen, daß ihr Land von einer fremden Macht erniedrigt wird. Sie werden schon etwas tun: Es wird irgend etwas geschehen, und das werden wir uns zunutze machen.«
»Was denn?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich werde die Zeichen aufmerksam beobachten. Gebt keine genauen Informationen über die Zahl der fremden Soldaten heraus. Wenn Euch jemand fragt, sagt einfach, das Verhältnis sei immer noch vier zu eins. Und laßt Eure Truppen weiter üben.«
»Warum soll ich das tun? Wenn das Verhältnis fünf zu eins steht, sind wir verloren.«
»Nein: Wir wären gleich stark. Wenn die Schlacht stattfinden sollte, werdet Ihr nicht gegen einen unterlegenen Feind kämpfen, und man wird Euch nicht für einen Feigling halten, der die Schwächeren mißbraucht. Das Heer von Akbar wird sich einem Gegner stellen, der genauso mächtig ist wie es selbst. Und es wird die Schlacht gewinnen, weil sein Kommandant die bessere Strategie entwickelt haben wird.«
Bei seiner Eitelkeit gepackt, willigte der Kommandant in den Vorschlag ein. Und von diesem Augenblick an begann er dem Stadthauptmann und Elia Informationen zu verheimlichen.
Weitere zwei Monate vergingen. Eines Morgens hatte das assyrische Heer das Verhältnis von fünf zu eins erreicht. Es konnte jeden Augenblick angreifen.
Seit einiger Zeit schon hatte Elia das ungute Gefühl, daß der Kommandant log, was die Kräfte des feindlichen Heeres betraf, doch letztlich würde sich das zu seinen Gunsten auswirken: Wenn das Verhältnis seinen kritischen Punkt erreicht haben würde, wäre es einfach, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß der Friede die einzige Lösung sei.
Er dachte darüber nach, als er sich zu der Stelle des Marktplatzes begab, an dem er einmal in der Woche den Bewohnern half, ihre Streitigkeiten zu schlichten. Im allgemeinen waren es Nichtigkeiten: Streit zwischen Nachbarn, alte Leute, die keine Steuern mehr zahlen wollten, Kaufleute, die glaubten, bei ihren Geschäften benachteiligt zu werden.
Der Stadthauptmann war auch anwesend. Er pflegte hin und wieder zu erscheinen, um ihm zuzuschauen. Die Abneigung, die Elia gegen ihn gehegt hatte, war gewichen, und der Stadthauptmann entpuppte sich als ein weiser Mann, dem daran gelegen war, Konflikte schon im Vorfeld zu
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