Der fuenfte Berg
Götter werden sich unser wieder erinnern.«
Bevor er ging, wandte er sich an Elia: »Ihr seht es mit eigenen Augen. Der Himmel hilft uns immer noch...«
»Erlaubt mir nur eine Frage«, sagte Elia. »Warum soll das Volk Eures Landes geopfert werden?«
»Weil das notwendig ist, um eine Idee auszurotten.«
Seit Elia ihn am Vormittag mit der Frau hatte reden sehen, wußte er, welche Idee gemeint war: das Alphabet.
»Es ist zu spät. Es ist bereits über die Welt verbreitet, und die Assyrer können nicht die ganze Erde erobern.«
»Wer sagt, daß sie das nicht können? Schließlich können ihre Truppen auf die Götter des Fünften Bergs zählen.«
Wie am Vortag wanderte Elia viele Stunden lang durch das Tal. Mindestens einen Nachmittag und eine Nacht würde der Frieden noch dauern; kein Krieg begann im Dunkeln, denn nachts konnten die Krieger den Feind nicht erkennen. In dieser Nacht, das wußte er, gab ihm der Herr die Chance, das Schicksal der Stadt zu wenden, die ihn aufgenommen hatte.
»Salomo wüßte jetzt, was er zu tun hätte«, meinte er zu seinem Engel. »Und David und Mose und Isaak auch. In sie hatte der Herr sein Vertrauen gesetzt, ich dagegen bin nur ein unschlüssiger Diener, den der Herr vor eine Wahl stellt, die Er eigentlich selbst treffen müßte.«
»Die Geschichte unserer Vorfahren scheint immer von rechten Männern zu wimmeln, die zur rechten Zeit am rechten Ort waren«, entgegnete der Engel. »Aber merk dir: Der Herr verlangt von jedem nur das Mögliche.«
»Dann hat Er sich in mir geirrt.«
»Alles Leid, das kommt, vergeht auch wieder. So verhält es sich auch mit dem Ruhm und den Tragödien.«
»Ich werde es mir merken«, sagte Elia. »Doch Tragödien
hinterlassen sichtbare Spuren und Ruhm belanglose Erinnerungen.«
Der Engel antwortete nicht.
»Warum konnte ich in Akbar bisher keinen finden, der mit mir für den Frieden kämpft? Was vermag ein einzelner Prophet?«
»Was vermag die Sonne, die einsam über den Himmel wandert? Was vermag ein Berg, der sich mitten im Tal erhebt? Was vermag ein einsamer Brunnen? Und doch weist jeder der Karawane den Weg.«
»Mein Herz erstickt vor Trauer«, sagte Elia, indem er niederkniete und seine Arme zum Himmel reckte. »Könnte ich doch hier sterben und müßte meine Hände nie mehr mit dem Blut meines oder eines fremden Volkes beflecken. Blickt zurück: Was seht Ihr?«
»Du weißt doch, ich bin blind«, gab der Engel zurück. »Weil meine Augen noch immer voll der Herrlichkeit Gottes sind, kann ich nichts anderes sehen. Alles, was ich aufnehmen kann, ist, was dein Herz mir erzählt. Alles, was ich sehen kann, ist das Beben der Gefahren, die dir drohen. Ich kann nicht wissen, was hinter dir liegt.«
»Dann werde ich es Euch sagen: Dort liegt Akbar, wunderschön in der Abendstunde, im Licht der untergehenden Sonne. Ich habe mich an Akbars Straßen und Mauern gewöhnt, an sein großherziges, gastfreundliches Volk. Auch wenn die Bewohner der Stadt im Handel und in Aberglauben befangen sind, ist doch ihr Herz so rein wie irgendein anderes in der Welt. Ich habe von ihnen viel gelernt. Andererseits habe ich mir die Klagen ihrer Bewohner angehört und mit Gottes Hilfe ihre internen Konflikte gelöst. Mehrfach war ich in Gefahr, doch immer hat mir jemand geholfen. Warum muß ich wählen, ob ich diese Stadt retten will oder mein Volk?«
»Weil der Mensch wählen muß«, entgegnete der Engel. »Seine Stärke ist seine Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen.« »Es ist eine schwierige Wahl: Sie verlangt, daß ich den Tod eines Volkes hinnehme, um ein anderes zu retten.«
»Den eigenen Weg zu finden ist noch schwieriger. Aber wer nicht wählt, stirbt in den Augen des Herrn, auch wenn er äußerlich weiterlebt.«
Elia hob abermals die Arme zum Himmel: »Die Schönheit einer Frau ist schuld, daß sich mein Volk vom Herrn abwandte. Phönizien steht vor dem Untergang, weil ein Priester glaubt, daß die Schrift die Götter bedrohe. Warum schreibt der Schöpfer dieser Welt das Buch des Schicksals lieber als Tragödie?« Die Berge warfen Elias Rufe als Echo zurück. »Du weißt nicht, was du sagst«, antwortete der Engel. »Es gibt keine Tragödie, es gibt nur das Unabwendbare. Alles hat seinen Grund. Es gibt nur einen Gegensatz: vergänglich oder ewig.« »Was ist vergänglich?« fragte Elia. »Das Unabwendbare.« »Und was ist ewig?«
»Die Lehren, die man aus dem Unabwendbaren zieht.« Und indem er dies sagte, entschwand der Engel.
Beim Abendessen sagte
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