Der Fürst der Maler
zwei Bögen mit spitzer Feder eng beschriebenen Pergaments. Ich stellte mir vor, wie sich Giovanni mit seinem Augenglas tief über das Pergament gebeugt hatte, um mir zu schreiben.
»Lieber Freund!«, las ich dem ebenso ungeduldigen Michelangelo laut vor. »Es ist vollbracht! Endlich! Du bist der Erste, dem ich von dem Triumph der Medici berichte.
Ich sitze am Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer des Palazzo Medici, den ich vor achtzehn Jahren verlassen musste. Mein Bruder Giuliano ist bei mir, und auch Cousin Giulio ist heute Morgen aus Rom in Florenz eingetroffen …«
»O mein Gott! Die Trinità der Medici ist wieder vereint«, stöhnte Michelangelo. Er befürchtete das Schlimmste.
Ich las weiter vor: »Der Weg nach Florenz war lang und steinig. Das Massaker von Prato lässt mich noch immer nicht schlafen. Ich habe Gott auf Knien angefleht, die Spanier zu zügeln, aber Er wollte es nicht. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mir seitdem die Hände gewaschen habe, aber sie werden nicht mehr sauber. Das Blut tausender Unschuldiger klebt an ihnen. Giulio hat mir die Beichte abgenommen und die Absolution erteilt, aber es half nicht. Kein bisschen. Jede Nacht sehe ich die Sterbenden der Schlacht von Ravenna, die Toten von Prato und die brennenden Kirchen vor mir.
Der Weg nach Florenz war lang. Aber der Weg von der Porta Romana über den Ponte Vecchio in die Via Larga war noch viel länger. Tausende empfingen Giuliano und mich auf der engen Piazza hinter der Porta Romana, geleiteten uns am Palazzo Pitti vorbei. Das Gedrängel war so stark, dass Giuliano und ich nur sehr langsam vorankamen. Einen solchen Empfang hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet! Wir wurden so oft umarmt, dass mir noch heute, drei Tage nach unserem Triumphzug, alle Glieder meines Körpers schmerzen. Die Florentiner lachen und singen, doch in ihren Augen sehe ich die Angst. Den ›Apokalyptischen Reiter‹ nennen sie mich, wenn sie glauben, dass ich es nicht hören kann.
Ich bin glücklich, Raffaello. Und ich bin traurig.«
Ich ließ den Brief sinken.
Michelangelo, der während des Lesens aufgesprungen und in der Gartenloggia wie gehetzt auf und ab gelaufen war, blieb stehen. »Wieso ist er traurig, Raffaello?«, fragte er verständnislos. »Sein Triumph ist vollkommen. Bitte lies weiter!«
Ich fuhr fort: »Die Republik Florenz existiert nicht mehr. Der Gonfaloniere Piero Soderini wurde von seinen eigenen Gefolgsleuten gefangen genommen und zum Palazzo Medici gebracht. Er ist auf dem Weg ins Exil nach Siena. Sein Sturz war der schnellste und unblutigste Coup d’état der Geschichte – eine Sache von nicht einmal einer Stunde. Der Staatssekretär Machiavelli steht unter Hausarrest in seinem Palazzo. Ich bin enttäuscht von Niccolò, der mit mir am Tisch meines Vaters aß. Er ist ein Verräter an der Familie Medici! Das Verlies im Bargello habe ich ihm erspart, weil er sich bedingungslos unterworfen hat. Er hat mir sogar angeboten, für mich Florenz zu regieren, bis Giuliano seine Macht als Erster Bürger der Republik gefestigt hat. So ein Verrückter! Als würde ich ihm jemals wieder die Herrschaft über mehr als einen Bogen Papier und ein Tintenfass geben.«
» Deo gratias! Niccolò lebt!«, seufzte Michelangelo. »Was ist mit den anderen? Mit Giuliano und Antonio da Sangallo, mit Baccio d’Angelo, mit …«
»Wenn du mich weiterlesen lässt, werden wir es vielleicht erfahren«, unterbrach ich den aufgelösten Freund.
Er riss mir ungeduldig den Brief aus der Hand und begann laut vorzulesen: »Ramón de Cardona hat eine Abfindung von einhundertfünfzigtausend Fiorini erhalten – für die entgangenen Plünderungen. Ein Großteil des Geldes stammt von deinem Freund Taddeo Taddei. Wenn ihm Florenz vorher noch nicht gehört hat – jetzt schuldet ihm jeder Florentiner Geld. Und mehr als das! Ich denke darüber nach, ihn zum Gonfaloniere wählen zu lassen – seine Familie hatte dieses Amt schon inne, als mein Urgroßvater Cosimo herrschte. Aber Taddeo Taddei scheint sich mehr für Urbino und Rom zu interessieren als für Florenz. Was mag er bloß vorhaben?
In den Straßen von Florenz ist seit dem Abzug der Spanier wieder Ruhe eingekehrt. Über dem Palazzo Medici weht das Lilienbanner, und der gestohlene Besitz wird zurückgegeben: die kostbaren Gemmen meines Vaters und der berühmte Rubinschmuck meiner Mutter, die Gemälde von Sandro Botticelli, die antiken Statuen, das Silbergeschirr. Von Stunde zu Stunde werden mehr
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