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Der Fürst der Maler

Der Fürst der Maler

Titel: Der Fürst der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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wichtigste aller Fragen: Wer bin ich?
    Um sie beantworten zu können, musste ich eine Entscheidung zwischen Leben und Tod treffen …

Kapitel 4
Ecce Homo
    E cce homo!« , flüsterte Leonardo. »Welch ein wunderbares Meisterwerk der Mensch ist!«
    Die Zelle war leer bis auf einen Tisch und einen hölzernen Crucifixus an der gegenüberliegenden Wand. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag mit einem weißen Laken zugedeckt ein Mensch. Ein Toter.
    » Ecce homo! Sieh den Menschen! Oder das, was von ihm übrig ist, wenn das, was ihn ausmachte: die Seele, ihn verlassen hat«, wiederholte Leonardo flüsternd.
    Ich atmete tief ein, um die in mir aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen. Der Geruch in der Zelle war unerträglich. Wie Blumen, die im Wasser verfaulen. Ich riss die Innenläden des Fensters auf und ließ die kühle Nachtluft herein.
    » Mortui vivos docent – Die Toten lehren die Lebenden«, deklamierte Leonardo, als er das Laken vom Toten zog. »Fürchtest du dich?«
    »Ja«, gestand ich.
    Leonardo hatte mich nach Mitternacht in den tiefen Schatten vor dem Portal von San Marco erwartet. Die Nachtwächter mit ihren Fackeln hatten uns weder gehört noch gesehen. Lautlos waren wir in der Dunkelheit durch das Portal in die Basilika gehuscht. Die mitternächtliche Messe der Dominikanermönche war beendet, ein schwerer Duft von Weihrauch hing noch in der Luft. Vor den Gedenktafeln für Giovanni Pico della Mirandola und Angelo Poliziano im linken Seitenschiff waren wir kurz stehen geblieben. Dann eilten wir am Altar vorbei durch eine unscheinbare Tür in einen mondbeschienenen Kreuzgang, von wo aus eine Treppe in das obere Stockwerk des Konventsgebäudes führte. Leonardo hatte meine Hand ergriffen und mich zu einer Zelle geschleppt, deren Tür nur angelehnt gewesen war.
    »Noli me tangere« , hatte er geflüstert. In der Zelle war es so finster gewesen, dass ich in der Dunkelheit gegen Leonardo geprallt war, der stehen geblieben war. » Noli me tangere von Fra Angelico«, hatte er wiederholt und auf das Fresko neben dem Fenster der Zelle gedeutet.
    Ich trat näher, um Fra Angelicos Auferstandenen im Schein des Mondes zu bewundern, als Leonardo eine Kerze anzündete. Dann erst hatte ich den Toten in der Zelle bemerkt.
    »Du hast allen Grund, unruhig zu sein«, sagte Leonardo ernst, als ich ihm meine Angst gestand. Ganz gegen seine Gewohnheit enthielt er sich einer zynischen Bemerkung. »Wenn wir entdeckt werden …« Den Schluss ließ er offen.
    Die Exkommunikation wäre noch die geringste Strafe für die Deformation eines Toten.
    Leonardo wühlte in der Tasche, die er mitgebracht hatte. Nacheinander legte er das Instrumentarium eines Medicus auf den Tisch: Skalpelle, Messer, Scheren und Zangen.
    Im Schein meiner Kerze sah ich dem Toten ins Gesicht. Noli me tangere – berühre mich nicht! War es Zufall oder Leonardos subtiler Sinn für Humor, der uns den Mönch gerade in dieser Zelle mit Fra Angelicos gleichnamigem Fresko sezieren ließ? Die Augen des Toten waren geschlossen. Er sah aus, als ob er schliefe und von einem neuen Leben träumte. Hatten wir das Recht, ihn in seiner Ruhe zu stören?
    Ich bekreuzigte mich und sprach ein kurzes Gebet: »Gott, vergib uns! Denn wir wissen, was wir tun …«
    »Bist du sicher? Weißt du, was du tust?«, fragte Leonardo spöttisch. Er hatte im flackernden Kerzenlicht meinen Gesichtsausdruck bemerkt.
    »Was ist der Mensch, dass wir seiner gedenken?«, flüsterte ich.
    Während Leonardo die scharfe Klinge des Skalpells zum ersten Schnitt ansetzte, dachte ich darüber nach, was ich über den menschlichen Körper gelesen hatte. Pulvis et umbra sumus – Staub und Schatten sind wir, hatte der Dichter Horatius geschrieben. Ein Name. Ein Stück Fleisch. Die Verwirklichung aller seiner Möglichkeiten, die Selbstvervollkommnung, so hatte der Naturwissenschaftler Aristoteles das Menschsein definiert.
    Und wer bin ich?, fragte ich mich. Ein Verrückter, der sich von seiner Neugier und seinem Ehrgeiz über die Grenzen der Konventionen treiben ließ, weil er alle Möglichkeiten erforschen wollte? Ein Besessener, der nur bei der schmerzhaften Überschreitung der Begrenztheit seines eigenen Selbst das pulsierende Leben in sich spüren konnte?
    Leonardo schnitt von der Brust des Toten am Nabel vorbei bis zu den Lenden. Mit diesem Schnitt durchtrennte er die Haut und legte das gelblich schimmernde Fettgewebe frei. Er vertiefte den Schnitt, um zu den Muskeln des Bauches zu gelangen, die die

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