Der Fürst der Maler
dunklere, rote Farbe von gebrannter Tonerde hatten.
Noch während ich die Muskulatur des Bauches mit Rötel skizzierte, öffnete Leonardo mit einem einzigen langen Schnitt die Bauchhöhle. Ich wagte kaum zu atmen, um die aufsteigende Übelkeit in meinem Inneren zu beherrschen.
Leonardo schien das Sezieren des Toten nichts auszumachen. Er griff mit beiden Händen in den geöffneten Leib und holte etwas hervor. »Was ist der Mensch …?«, deklamierte er, als wäre er der Hauptdarsteller eines Stückes von Boccaccio. »Er hat Emotionen, Ahnungen, Ängste. Er hat ein Herz!« Schwungvoll legte Leonardo das Herz auf den Brustkorb des Toten.
Ich trat näher heran, um das Herz zu betrachten, einen formlosen Klumpen Fleisch, der wie eine Marionette an Fäden hing.
Leonardo griff zu einer kleinen Säge, um den Schädel des Toten zu öffnen. Zuvor hatte er die Kopfhaut durchtrennt und nach hinten geklappt. Es sah aus, als trüge der Mönch über seiner knochenbleichen Tonsur einen purpurfarbenen Heiligenschein. Leonardo setzte die Säge an die Stirn und begann zu sägen. Langsam arbeitete er sich bis zum Hinterkopf vor.
Nach ein paar Minuten fiel die knöcherne Kopfplatte mit einem dumpfen Knall auf den Steinboden, bevor ich sie auffangen konnte.
Wie gebannt starrte ich zur Tür, die sich jeden Augenblick öffnen konnte. Ich vergaß zu atmen. Doch alles blieb ruhig.
Leonardo nahm das Gehirn in beide Hände und begann daran zu ziehen. Die Augen des Toten bewegten sich. Leonardo verstärkte seine Anstrengungen. Das Gesicht des Toten verzog sich zu einem teuflischen Grinsen. Ich erstarrte. Er konnte unmöglich noch leben! War das eine Strafe Gottes für unseren Frevel? War die leibliche Auferstehung möglich?
Leonardo legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter und ließ mich das Gehirn halten, während er die Verbindungen zum Körper durchtrennte, welche die Gesichtsmuskulatur bewegten und die das Sehen, das Hören und Fühlen des Menschen ermöglichten.
Nach ein paar Minuten nahm mir Leonardo das Gehirn aus der Hand und legte es neben das Herz. »Was ist der Mensch …?«, wiederholte er spielerisch. »Er denkt, dass er weiß. Dass er versteht. Sokrates war so vermessen zu behaupten, dass er weiß, dass er nichts weiß. Und du, Raffaello, gehst sogar noch einen Schritt weiter als Sokrates. Du ahnst nicht nur, dass es mehr zu wissen gibt, du willst es auch verstehen …«
»Leonardo, bitte …«, unterbrach ich ihn.
»Meine Vorlesung ist noch nicht zu Ende«, mahnte der Maestro mit erhobenem Finger.
Mit einem schnellen Schnitt des Skalpells durchtrennte er die Haut des rechten Unterarms direkt über dem Handgelenk. Er fasste den Rand und zog dem Toten die Haut ab wie einen seidenen Handschuh. Tiefrot leuchteten die feinen Muskeln und Sehnen der Finger über den bleichen Knochen.
»Gott sprach: ›Lasst Uns einen Menschen machen, Uns ähnlich. Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie Wir: Er erkennt Gut und Böse.‹ Was also ist der Mensch, Raffaello? Er erschafft. Er vollendet. Und er zerstört. Gott, die Welt und am Ende sich selbst. Mit diesen Händen.
Aber der Mensch ist mehr als Herz, Hand und Verstand. Er ist mehr als die Summe seiner Teile. Er ist ein vollendetes Kunstwerk, erschaffen vom größten aller Maestros!«
»Das ist er!«, hörte ich eine Stimme an der Tür. »Und die Malerei ist die Anbetung von Gottes Werk.«
Wir fuhren herum.
In der halb offenen Zellentür stand ein Dominikaner. Seine weiße Soutane leuchtete im Schein unserer Kerzen, die schwarze Kapuze seines weiten Umhanges beschattete sein Gesicht. In der erhobenen Hand eine Kerze, schien der Mönch ein drohender Engel des Jüngsten Gerichts zu sein!
»Und der Mensch ist noch etwas! Er ist die selbstgerechte Überheblichkeit über die eigenen, von Gott festgelegten Grenzen seines Selbst. Er will sein wie Gott«, sagte der Dominikaner.
Es war vorbei! Ich hatte alles riskiert und verloren! Das war das Ende meiner Karriere als Maler in Florenz. Das war das Ende meines Lebens.
Wie lange hatte der Frater in der Zellentür gestanden und Leonardo und mich beobachtet?
Wer bei der Inquisition der Ketzerei oder Gotteslästerung angeklagt wurde, erhielt eine Gnadenfrist von zehn Tagen, um sich selbst zu stellen. Wer diese Chance wahrnahm, wurde wieder in die Kirche aufgenommen und kam mit einer Buße als Bestrafung davon. Die Züchtigung durch die Folterinstrumente der Inquisition bot zumindest eine minimale Chance des
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