Der Fürst der Maler
im Jahr eine Leiche geöffnet. Doch nicht um der Forschung willen, sondern um die alten Lehren von Galenus, Hippokrates und den Canon Medicinae des Abu Ali Ibn Sina, genannt Avicenna, zu beweisen. Die Strafe der Kirche für das Sezieren der Toten war die Exkommunikation, der endgültige Ausschluss vom Gottesdienst, die Verdammung.
»In einigen Tagen werde ich eine Leiche öffnen.« Leonardo sprach in einem Tonfall, als würde er mich zu einem Calcio-Spiel auf der Piazza Santa Croce einladen. »Du kannst mir dabei assistieren!«
Als ich Leonardos Bottega verließ, dämmerte der neue Tag.
Eine Leiche sezieren? Aufschneiden und zerlegen wie einen Gänsebraten? Das war undenkbar! Und warum gerade in San Marco? In einer Kirche der Dominikaner, die seit Savonarolas Fegefeuer der Eitelkeiten in Florenz die Domini Canes, die Wachhunde des Herrn, genannt wurden! Die Dominikaner waren die eifrigsten Mitarbeiter jener neuen Institution, die sich von Rom aus über Italien, Frankreich und Spanien ausgebreitet hatte: der Heiligen Inquisition. Unzählige Menschen waren der Inquisition bereits zum Opfer gefallen, die meisten aus nichtigen Gründen: Angst vor dem Inferno und der Schreckensherrschaft der Inquisitoren auf der einen Seite, unstillbare Machtgier, fanatischer Ehrgeiz und eine göttliche Rechtfertigung der Handlungen auf der anderen Seite. Dazwischen loderten die Feuer der Scheiterhaufen.
Und ausgerechnet in San Marco, einem Dominikanerkloster, wollte Leonardo dieses Mal eine Leiche öffnen! Warum nicht in der Leichenkammer des Hospitals von Santa Maria Nuova, wo er zuvor seziert hatte? Warum nicht in Santo Spirito, wo Michelangelo seine anatomischen Kenntnisse erworben hatte? »Ich habe meine Gründe …«, hatte Leonardo gemurmelt. Ich zweifelte an seinem Verstand. Und an meinem eigenen.
Durch das Hauptportal betrat ich die Kirche Santa Maria Novella. Das hohe Kreuzgewölbe schien sich endlos zu erstrecken. Langsam ging ich das Mittelschiff entlang und zerteilte die spiegelglatte Oberfläche der morgendlichen Stille mit dem Geräusch und dem Echo meiner Schritte. Ich war allein.
Das erste Licht fiel aus den hohen Rundfenstern auf Masaccios Fresko der Trinità im linken Seitenschiff. In der Mitte des Freskos überragt Gottvater den gekreuzigten Christus, seine Hände stützen die beiden Arme des Kreuzes. Über dem gesenkten Haupt des Erlösers schwebt der Geist in Form einer weißen Taube. Im unteren Teil des Freskos hatte Masaccio eine Grabnische mit einem Skelett gemalt. Eine deutliche Mahnung an die Vergänglichkeit allen irdischen Strebens. Über den gebleichten Knochen die gemalte Inschrift: Ich war, was du bist, du wirst sein, was ich bin.
Ich starrte das Fresko an. Und dann begriff ich. Die zentrale Figur der Trinità war nicht der gekreuzigte Christus, nicht einmal Gott. Der Mensch war der Fluchtpunkt der Perspektive. Du wirst sein, was ich bin! Es war der auf sein Gerüst reduzierte Mensch, der als Maßeinheit für das Fresko diente: das gemalte Skelett im Sockel des Freskos. Masaccio hatte seinem Entwurf die antike Idee vom Menschen als dem Maß aller Dinge zu Grunde gelegt! Die sichtbare Welt über ihm war genauso breit wie der Mensch selbst. Der Fluchtpunkt der Perspektive lag in Augenhöhe des Betrachters und entsprach damit seinem geistigen Horizont. Aber sie war doppelt so hoch. Unerreichbar hoch.
Masaccio hatte eine neue Trinità erschaffen: Gott und Mensch und zwischen ihnen die Selbstaufopferung Christi.
Nachdenklich verließ ich die Basilika. Und stieß mit Pietro Perugino zusammen, der die Kirche zum Morgengebet betreten wollte.
Pietro war ebenso überrascht, mich in Florenz zu treffen, wie ich, ihn zu sehen. Er hatte in der Nähe eine Werkstatt, die vorher dem Bildhauer Lorenzo Ghiberti gehört hatte. Seine Bottega war ein beliebter Treffpunkt der jungen, aufstrebenden Maler von Florenz.
Pietro hatte sich in den Monaten, in denen ich ihn nicht gesehen hatte, kaum verändert. Seine wirren schwarzen Haare schimmerten wie versilbert. Die Zornesfalte zwischen seinen Augen hatte sich tief in die Stirn eingegraben. Ein paar feine Linien in den Augenwinkeln waren seinem Gesicht hinzugefügt worden. Aber nicht vom Lachen, sondern in der misstrauischen Beobachtung der Welt, die ihm nichts vorenthalten durfte.
»Was machst du in Florenz, Raffaello?« Peruginos Stimme war so kalt wie sein Blick.
»Ich bin gekommen um zu lernen, Pietro«, erklärte ich ruhig.
»Lernen? Du hast bei mir alles
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