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Der Fürst der Maler

Der Fürst der Maler

Titel: Der Fürst der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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starrte in das Wasser. Und fuhr erschrocken zurück. Ich konnte meine Hände nicht in Unschuld waschen! Ich hatte einen Menschen seiner Hoffnung auf die Auferstehung am Tag des Jüngsten Gerichtes beraubt. Ich hatte ihn zerlegt wie ein Stück Fleisch. Und warum? Weil ich den menschlichen Körper darstellen wollte. Weil ich ihn neu erschaffen wollte, schöner, faszinierender, vollkommener, als Gott es vermocht hatte.

    »Du?« Mehr sagte er nicht.
    Ich hatte Michelangelo durch mehrmaliges nachdrückliches Klopfen an der Tür seiner Wohnung geweckt. Nun hing er mit offenem, halb in die enge Hose gestopftem Leinenhemd im Türrahmen und starrte mich ungläubig an. Offensichtlich hatte ich ihn aus dem Bett getrommelt.
    »Ich!«, antwortete ich.
    »Was willst du hier?«, fragte er.
    »Keine Ahnung«, gestand ich ehrlich.
    Meine Antwort verblüffte ihn derart, dass er mich hereinließ. An ihm vorbei betrat ich seine Wohnung, ein ärmliches Zimmer mit einem niedrigen Bettgestell an der unverputzten Wand, einem massiven Tisch mit zwei hölzernen Stühlen. Michelangelo arbeitete nicht nur so hart wie ein Strafgefangener in den Steinbrüchen, er wohnte auch so anspruchslos wie ein Mönch. Die Wände seiner Wohnung waren bedeckt mit Skizzen von nackten Körpern. Ringende, bewegte, stürzende Gestalten. Keine Sieger.
    Ich setzte mich auf einen der Holzstühle und stützte mein Gesicht in meine Hände. Michelangelo nahm mir gegenüber Platz und beobachtete mich. »Du stinkst«, stellte er fest. »Du stinkst erbärmlich.«
    Angewidert schob ich einen Holzteller mit den Resten eines halben Hühnchens zur Seite, füllte einen verbeulten Zinnbecher mit Wein und kippte ihn hinunter. »Ich weiß«, gestand ich, während ich den nächsten Becher einschenkte.
    »Ich kenne diesen Geruch nach Tod und Verwesung«, sagte er.
    Ich deutete auf die Skizzen an den Wänden. »Auch du hast Leichen seziert, um die menschliche Anatomie kennen zu lernen. Andernfalls könntest du so etwas nicht erschaffen.« Wie ich trug Michelangelo ständig Silberstift und Skizzenbuch bei sich. Um das Unfassbare zu fassen. Und das Vergängliche zu verewigen.
    Er beobachtete mich mit zusammengekniffenen Lippen.
    »Die Griechen sagen, dass Hybris, die Selbstüberhebung des Menschen, und Nemesis, seine Bestrafung durch Gott, untrennbar zusammengehören wie zwei Seiten einer Münze«, sagte ich leise. »Das Schicksal lässt den Menschen sich in den Fußangeln verfangen, die sein Ehrgeiz und seine Neugier ihm auf seinen Weg gelegt haben. Wer zu weit geht, wird durch das Schicksal daran erinnert, dass Überheblichkeit bestraft wird. Immer.«
    In diesem Augenblick schlug er zu. »Ich werde dich lehren, wie man den Marmor schlägt! Und urbinische Holzköpfe!«, brüllte er.
    Michelangelos Marmorfaust traf mich im Gesicht mit einer Wucht, die mich mit dem Stuhl hintenüber kippen ließ. Ich schlug hart auf dem Steinboden auf und starrte einige Augenblicke wie benommen an die rußige Holzdecke.
    »Du nennst mich überheblich?«, brüllte er mich über den Tisch hinweg an.
    Vergeblich versuchte ich, mich aufzurichten. Ich war zu benommen von seinem Schlag, der Marmor formen konnte. Kraftlos ließ ich mich auf den Boden zurücksinken. Die Welt drehte sich um mich. Langsam schüttelte ich den Kopf, um nicht noch mehr Unordnung in meine Gedanken zu bringen. »Ich bin zu weit gegangen …«, flüsterte ich.
    Er ragte über mir auf wie ein römischer Gladiator, der seinen Gegner in die Knie gezwungen hatte und nun zum Todesstoß ausholte. Gedanken huschten über sein Gesicht, und Gefühle. »Ja, Raffaello, du bist zu weit gegangen«, sagte er und reichte mir seine Hand, um mir auf die Beine zu helfen. Er meinte nicht meine nächtlichen Aktivitäten in San Marco.
    Schwankend erhob ich mich und hielt mich an ihm fest, um nicht erneut zu stürzen. Er legte seinen Arm um meine Schultern und stützte mich.
    »Zu weit, aber noch nicht weit genug …«, begann ich.
    In diesem Augenblick traf mich erneut seine Faust, und ich stolperte rückwärts, prallte gegen die Wand und riss beim Fallen mehrere seiner Skizzen mit zu Boden.
    »Noch nicht weit genug? Seit du in Florenz bist, raubst du mir meinen Seelenfrieden! Wie weit willst du noch gehen?«, brüllte er.
    »Ich werde diesen Weg bis zu seinem Anfang gehen«, versprach ich ihm, während ich mich wieder erhob.
    Er war so verblüfft über meine Antwort, dass er mir zusah, wie ich schwankend wieder am Tisch Platz nahm. Er zögerte, doch dann

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