Der Fürst der Maler
hätte die Form ihrer Augen mit Mandeln vergleichen können, ihren Mund mit einer frisch aufgebrochenen Feige, ihre Haut mit den zarten Blütenblättern einer Rose, ich hätte ihre anmutige Haltung und ihr Lächeln mit einem Sonett von Francesco Petrarca beschreiben können, und doch hätte ich nicht einen Bruchteil von dem widerspiegeln können, was ich in ihr sah: Sinnlichkeit und Leidenschaft.
»Es reicht mir, wenn ich den Himmel erreiche«, sagte ich und machte mich an den Gurten des Fluggerätes zu schaffen. Ich vermied es, sie anzusehen, um nicht meine Selbstbeherrschung zu verlieren.
Ihr Lachen klang wie das Lied einer Nachtigall. »Den Himmel kann man auch auf andere, weniger gefährliche Weise erreichen.«
Ich wusste, welche Weise sie meinte, und lächelte. »Ihr meint sicher durch Meditation und Gebet?«, scherzte ich.
»Nein, nicht durch Beten«, antwortete sie.
»Durch fromme Taten?«
»Nein, nicht durch Frömmigkeit«, antwortete sie.
»Durch die Liebe!« Ich meinte nicht Agape, die göttliche, die geistige Liebe. Sondern Eros, die irdische, die körperliche Liebe. Das Aufeinanderprallen nackter Körper, die sexuelle Ekstase, die Erlösung. Die Liebe der Göttin Aphrodite!
»Nein, auch nicht durch die Liebe!«, lächelte sie.
Ich schwieg überrascht. Hatte ich sie missverstanden?
»Sondern durch Geschehenlassen, Maestro Raffaello«, fuhr sie ruhig fort. »Ich glaube an die unabwendbare Fügung des Schicksals. Ich glaube, dass Gott uns führt.«
»Und wohin führt er uns?«, fragte ich.
Sie küsste mich auf die Wange, setzte die Maske der Aphrodite auf und verschwand geheimnisvoll lächelnd.
Verwirrt sah ich ihr nach.
Giuliano und Antonio da Sangallo halfen mir, den Ornitottero auf den Gipfel des Monte Céceri zu schleppen. Mit jedem Schritt bergauf wurde das Fluggerät aus Holz und Seide schwerer und ich wütender.
Wo war Leonardo?
Wir setzten die Maschine oberhalb eines Steilhanges auf den Boden und richteten sie auf, sodass ich stehend das lederne Geschirr umschnallen konnte, das die weiten Schwingen des Gerätes an meinen Armen befestigte. Ich legte meine Ikaros-Flügel ab und trat an die seltsame Maschine heran.
Einen kleineren und leichteren Prototyp des Ornitottero mit einer Spannweite von nur sechs Ellen hatten Leonardo und ich vor kurzem die vierhundertvierzehn Stufen des Campanile von Santa Maria del Fiore hochgeschleppt, um seine Flugfähigkeit zu testen. Als das Modell, von der leichten Abendbrise in Richtung Arno getragen, direkt über dem Palazzo della Signoria abstürzte und eines der Fenster zertrümmerte, verbot uns Piero Soderini unter Androhung einer Anklage wegen groben Unfugs weitere Flugversuche.
Der Ornitottero war Leonardos dritter Versuch der Entwicklung eines Fluggerätes. Mit seiner ersten Konstruktion, einem leichten Gerüst mit beweglichen Flügeln, die durch komplizierte Mechanismen durch Arme und Beine in Bewegung gehalten wurden, war Leonardo vor etlichen Jahren an dieser Stelle oberhalb von Fiesole aus dem Himmel gefallen. Mit seinem nächsten Entwurf, der sich mithilfe einer archimedischen Schraube in die Luft erheben sollte, war er vorsichtshalber gar nicht erst gestartet. Dieser dritte Ornitottero war ein Gleiter. Die Flügel waren unbeweglich wie die einer Möwe im Gleitflug über dem Meer. Ich konnte also nur in der Thermik der aufsteigenden Winde an Höhe gewinnen und durch die Bewegung meiner im Geschirr festgeschnallten Beine die Richtung ändern. Aber das war pure Theorie! Kein Mensch war zuvor geflogen.
Warum hatte ich mich bloß auf diesen Wahnsinn eingelassen? Vor zwei Wochen hatte Leonardo halb Florenz zu diesem Experiment eingeladen, nur um sich drei Tage später beim Sturz vom Gerüst im Ratssaal der Signoria den Knöchel auszurenken. Er war auf einer Pfütze nasser Freskofarbe ausgeglitten und gestürzt. In einem Anflug von Geistesgestörtheit hatte ich ihm angeboten, den Ornitottero für ihn zu fliegen. Noch am selben Tag war Leonardos Hinken merklich besser geworden, und ich vermutete, dass er sich nicht ohne Absicht vom Gerüst gestürzt hatte. Er hatte Angst vor dem Fliegen!
Endlich erschien Leonardo! Mit einem Brustharnisch und einem Helm unter dem Arm keuchte er in der Maske eines Zauberers den Abhang hinauf. Mit dem silbergrauen Bart und den langen, wehenden Haaren erinnerte er eher an Gottvater als an einen Magier. Sein Hinken war fast völlig verschwunden. Nach Luft ringend, blieb er vor mir stehen. »Zieh das an!«, befahl er
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