Der Fürst der Skorpione
ihr die äußere Hülle der Karawaneneinheit, rechts die Reling und vier Meter tiefer die Straße.
»Björn!«, schrie sie, der Lärm war jetzt so stark, dass sie sich kaum selber hören konnte. »Björn!« Niemand antwortete. Sie war allein.
FREE RIDERS
Nein, dachte sie verzweifelt, das ist nicht wahr, nicht fair. Sie machte sich Hoffnung. Vielleicht hatte er eine der Einheiten hinter ihr erwischt. Später losgelaufen, später gesprungen, das konnte doch sein. Und sie wusste ja nicht einmal, ob er nicht doch auf ihrer Einheit war. Vielleicht wartete er ja genau in diesem Moment auf der anderen Seite und fragte sich, wo sie blieb. Sie musste ihn suchen gehen. Leicht gesagt. Sie bemerkte erst jetzt, dass ihre Augen schon ganz verklebt waren vom Staub und dass der Fahrtwind schneidend kalt war. Sie schlug die Kapuze ihrer Jacke hoch, und auch wenn das nicht allzu viel brachte, fühlte sie sich jetzt immerhin ein wenig besser geschützt. Um vorwärts zu kommen, musste sie sich mit voller Kraft in den Wind lehnen, die eine Hand an der Reling, die andere am Tank ihrer Karawaneneinheit. Unter ihrer linken Hand konnte sie spüren, wo der Lack abgeplatzt war und Rost sich breit machte. Als sie auf diese Weise ein paar Meter zurückgelegt hatte, musste sie plötzlich an die Träume vom Grönlandfeldzug denken, aber diese Höllenfahrt hier war fies und echt. Sie kam an eine Ecke und bewegte sich blind nach rechts, vom Wind gegen die flache Vorderseite des Containers gedrückt. Sie stellte sich vor, sie sei die Fliege an der Windschutzscheibe eines fahrenden Autos, die von der Fahrer- auf die Beifahrerseite wechseln wollte, ohne vom Wind weggerissen zu werden. Auf der anderen Seite des Containers ging es wieder schlechter. Jetzt überließ sie sich dem Druck des Windes, der sie mit seiner starken, kalten Hand über die Metallplanken schob. Eine unvorsichtige Bewegung, sie stürzte, fiel, dachte im Fallen: »Tot!« und stieß dann mit ihren Beinen so schmerzhaft an die Reling, dass sie fast ohnmächtig wurde. In letzter Sekunde fand sie Halt und rappelte sich wieder hoch.
Die Rückseite des Containers war dem Fahrtwind abgekehrt. Natürlich herrschte hier keine Windstille, Verwirbelungen von allen Seiten sorgten für manchmal heftige Böen um ihren Kopf, aber das war kein Vergleich mit dem Orkan vorher. Der Lärm hatte nachgelassen, weil sie jetzt auf einer größeren und besser ausgebauten Straße unterwegs waren, deswegen gab es auch keinen Staub mehr oder zumindest viel weniger als bei der Abfahrt vom Terminal. Ihr direkt gegenüber, vielleicht anderthalb Meter entfernt, schwankte der Container der nachfolgenden Karawaneneinheit im Rhythmus der Fahrbahnunebenheiten auf und ab. Die Querwand des Containers trug eine Aufschrift, Tabea konnte im Licht der Positionslampen nur die Buchstaben AMP entziffern. Jetzt saß sie da. Björn hatte sie nicht gefunden. Verzweiflung und Anstrengung hatten sie müde gemacht. Sie wusste, dass es vielleicht nicht sehr klug war, auf einer Karawane, die mit 150 Stundenkilometern durch die Gegend brauste, ein Schläfchen zu halten. Aber sie sagte sich, dass sie ohnehin nur kurz einnicken würde und im Moment sowieso nichts ändern konnte. Und ausruhen musste sie sich in jedem Fall, um später wieder fit zu sein. Und da der nachfolgende Container mit dem AMP- Schriftzug so beruhigend auf- und abschwankte, schlief sie tatsächlich ein. Als sie aufwachte, war sie völlig desorientiert. Sie hatte von zu Hause geträumt und fragte sich jetzt verschreckt, wo sie war, was dieser Lärm und diese Kälte zu bedeuten hatten. Kaum hatte sie ihre Lage erkannt, meldete sich ihr gepeinigter Körper: Arme und Beine waren steif und kalt, die Rückenmuskeln verspannt. Erst als sie sich hochrappeln wollte, um sich ein wenig zu strecken und zu dehnen, sah sie den Mann, kaum zwei Meter von ihr entfernt, mit einer Waffe in der Hand. Panisch versuchte sie, vom Boden hochzukommen, konnte aber nur auf ihrem Hintern einen halben Meter von dem Mann wegrutschen, bevor ein Knall ertönte.
Sofort kam der Schmerz. Als würde ihr ganzer Körper von zwei großen Händen wie ein nasses Kleidungsstück durchgewrungen. Ihre Haut musste verbrennen. Die Muskeln darunter zerreißen. Die Knochen zerbrechen. Und sie konnte sich weder bewegen noch schreien. Der Fremde packte sie und trug sie davon. Er hatte vier Hände, zwei für ihre Beine, zwei für ihre Arme. Er würde sie über die Reling werfen und die ganze Karawane
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