Der Fürst der Skorpione
»letztem Opfer«, Mut und ewiger Ruhe. Björn murmelte die Worte, denn der Text schien nicht ganz zur Gelegenheit zu passen.
»Was machst du da?«, fragte Danielle, dieses eine Mal nicht souverän und cool.
»Ich bete«, sagte Björn, »für Tommi.«
Das brachte sie alle zum Schweigen. Man konnte die peinliche Stille fast mit Händen greifen, während Björn seine Litanei murmelte. Er wiederholte es mehrere Male, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Er hatte den Eindruck, dass Tabea unter seiner Vorstellung besonders litt, wahrscheinlich quälte sie sich mit Schuldgefühlen, weil sie Tommis Tod nicht hatte verhindern können, aber um sie würde Björn sich später kümmern. Nach dem Trauerritual stand er auf und schwieg. Nach einer Pause räusperte sich Danielle und sagte: »Also, der erste Checkpoint dürfte in etwa einer halben Stunde kommen. Ich denke, wir sollten uns vorbereiten.« Die meisten verzogen sich, Tabea setzte sich einfach hin und begrub das Gesicht in den Händen. Björn strich ihr übers Haar. Nach einer Weile sagte er: »Tabea, wir dürfen uns am Checkpoint nicht fangen lassen.«
Sie nickte. Als Danielle einmal an ihnen vorbeikam, klopfte er Björn auf die Schulter.
Unter der Decke war es stickig und zu warm. Tabea war ängstlich und verwirrt. Danielle und Nick hatten ihr mehrfach versichert, dass die Decken bestmögliche Sicherheit boten, sie warfen den Röntgengeräten Echos zurück, die ihr Versteck wie einen Haufen zurückgelassenen Abfalls aussehen ließen. »Denk daran«, hatte Danielle zu ihr gesagt, »die Karawane passiert in langsamer Fahrt verschiedene Röntgenstationen, und nur wenn die automatischen Systeme etwas Verdächtiges entdecken, schicken sie die BorderForce auf die Karawane. Sie bleibt manchmal auch noch, wenn die Karawane wieder volle Fahrt macht, manchmal steigen die Typen sogar erst am anderen Ende von Sizilien aus. Wenn du Stiefel oder andere fremde Geräusche hörst, die darauf hindeuten, dass die Soldaten an Bord sind, verhalt dich ganz ruhig. Du hast dann immer noch eine Chance, weil sie nie die ganze Karawane durchsuchen. Generell würd ich sagen: Immer schön mit dem Kopf unter der Decke bleiben und morgen bist du in Afrika.« Aber sie brauchte doch wenigstens Luft! Die Decke wog schwer und kratzte. Tabea musste sich sehr anstrengen, nicht zu niesen. Bewegung war auch schlecht. Wie überhaupt alles, was darauf schließen ließ, dass sie kein Abfall war, sondern ein blinder Passagier. Sie konnte nicht klar denken, wie sollte sie auch. Vor einer Stunde hatte sie zum ersten Mal einen Menschen sterben sehen. Waren da nicht Stiefel ganz in ihrer Nähe? Vorhin hatte ihr Herz nur geklopft, jetzt hämmerte es. Keine Frage, die Soldaten durchsuchten ausnahmsweise die ganze Karawane, Container für Container. Was hatte Danielle gesagt von einem »Wertguttransport«? Sie hörte Hubschrauberlärm, na klar, die wussten doch, dass die Riders an Bord waren, die wussten doch alles!
Schritte, das waren eindeutig Schritte. Björn wird auf einen Lastwagen verladen und endet in der Erlösungskammer, und ich komme in ein Heim – das war alles, was sie denken konnte. Die Schritte näherten sich. Sie hielt den Atem an und schloss die Augen. Jemand beugte sich über sie, sie konnte das Rascheln der Kleidung hören. Ein Ruck, die Decke wurde weggerissen. Sie öffnete die Augen. Fedor und Danielle. Fedor, dessen Glasauge ihr seltsamerweise erst jetzt auffiel, sagte: »Du hältst ja richtig gut durch!« Er beugte sich mit einem Pappbecher zu ihr herunter, aber obwohl sie schweißüberströmt und ausgedörrt war, schlug sie ihm auf die Hand, dass das Mineralwasser nur so durch die Gegend spritzte. »Arschlöcher!«, schimpfte sie. Beide lachten.
»Zwei Stunden Sizilien«, sagte Danielle, »dann Checkpoint Nr. 2.« Im Licht der Taschenlampe konnte sie zum ersten Mal die Tätowierung an seinem Unterarm erkennen: aufeinandergestapelte Totenköpfe vor tintenschwarzem Hintergrund. Seinen anderen Unterarm zierten Spinnennetze. Danielle grinste, als er bemerkte, dass Tabea die Tätowierungen anstarrte. Zuerst dachte sie, beim zweiten Mal würde es leichter für sie sein. Sie fand eine Position, in der sie sich bei Niesreiz die Nase zuhalten konnte, ohne sich groß zu bewegen. Sie dachte bei sich: Vielleicht sollte ich endlich Pläne machen, was überhaupt wird, wenn wir in Afrika sind. Wo wir hingehen. Was wir tun. Aber sollte das nicht Björn wissen? War nicht er der Erwachsene, war nicht er Soldat
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