Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
zurückschlagen. Falls es Berenike gelang, einen von ihnen zu verletzen, durfte sie keine Gnade erwarten. Somit würde die jüngste Lamia des alten Volkes vergehen, ehe ihr Dasein überhaupt begonnen hatte. Selene ballte die Faust und zerknüllte den Brief. In manchen Nächten überwog ihre Zuversicht, doch in dieser schien ihre Villa erfüllt von finsteren Schatten und blutigen Omen. Ihr Vertrauen in Mica war gering. Rücksichtnahme hatte sie ihrem Sohn nicht anerzogen, und seine Schwester war eine Fremde für ihn. Erst vor wenigen Monaten hatte er sie kennengelernt. Je länger er brauchte, um Berenike zu finden, desto größer wurde sein Zorn auf ihre Eigenmächtigkeit. Bisher war seine Suche ohne Ergebnis verlaufen, sonst hätte er eine Nachricht nach Rom geschickt.
Berenike war selbst für den Goldenen keine leichte Jagdbeute. Nachdem sie aus dem Kokon der Larvae befreit worden war, konnte sie sich im Tageslicht frei bewegen, während Mica Schutz suchen musste, um nicht in Tiefschlaf zu fallen. Mit jedem weiteren Tag vergrößerte Berenike ihren Vorsprung. Obwohl Selene keine Ahnung hatte, ob ihre Tochter ohne ihr Gift noch immer eine Lamia genannt werden konnte, kannte sie deren Zielstrebigkeit. Es gehörte einiges dazu, einen Garou mit einem Katana anzugreifen. Einen gefährlicheren Gegner hätte sie sich wahrlich nicht aussuchen können.
Sie schabte mit den langen, spitzen Fingernägeln über ihre Stirn. Wenn sie bloß wüsste, wo sich Berenike aufhielt. Paris, London oder die Berge von Ronda kamen infrage. Ebenso gut war es möglich, dass sie sich versteckte und darauf wartete, dass sich die Wogen glätteten, bevor sie zuschlug. Mit festen Strichen glättete Selene das Briefpapier und begann erneut zu lesen. Hart biss sie die Zähne aufeinander. Nein! Die wenigen, unergiebigen Zeilen hatten sie lange genug gequält. In einem wütenden Impuls warf sie das Papier in das Kaminfeuer. Glut leuchtete an den Rändern auf. Das Schreiben schrumpfte in den Flammen, wurde zu einem schwarzen Klumpen und zerfiel. Die letzten geschriebenen Worte ihrer Tochter waren zu Asche geworden.
Selene atmete tief durch und wollte sich abkehren, als sie einen weiteren Brief auf dem Kaminsims entdeckte. Schon vorTagen hatte sie das Kuvert achtlos beiseitegelegt. Jetzt nahm sie es auf und brach das Siegel. Ehe sie die Zeilen überflog, warf sie einen Blick auf die Unterschrift. Branwyn. Ein Name von vielen, ohne jede Bedeutung. Sie erinnerte sich vage, dass Branwyn vor langer Zeit ein Freund von Mica war – soweit Freundschaften unter Vampiren existierten. Was wollte ein fremder Vampir von ihr? Gemeinhin mieden sie jeglichen Kontakt zur ältesten Lamia des alten Volkes. Geschweige denn, dass sie ihr Briefe schickten. Viel zu groß war die Angst, sie könnte darauf reagieren.
Nachdem sie gelesen hatte, schürzte sie die Lippen. Branwyn belästigte sie mit dem Gefasel einer Entdeckung und gewaltigen Umwälzungen. Einen Mythos habe er gehoben, und sie solle Zeugin davon werden. Was für eine unsägliche Idiotie! Vielleicht sollte sie seiner Bitte nachkommen und sich nach London begeben. Dort konnte sie ihm die Gedärme herausreißen und in den Hals stopfen, damit ein für alle Mal deutlich wurde, was sie von solcherlei Unsinn hielt. Mit der Zungenspitze tippte sie sinnend an einen Fangzahn. Möglicherweise war Berenike nach London gereist. Sie könnte mit ihrer Tochter reden und sie zur Vernunft bringen. Andererseits würde ihre Einmischung Mica noch mehr aufbringen.
Der Brief des Vampirs folgte dem für Selene weitaus wertvolleren Schreiben ins Feuer. Diesmal wartete sie nicht, bis er zu Asche verbrannte, sondern verließ ihre Villa auf dem Aventin, um unter den Nachtschwärmern von Rom nach einer Blutquelle zu suchen.
Erst viele Stunden später, bei ihrer Rückkehr im Morgengrauen, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Ein Mythos, gefunden von einem Vampir. Eine Versammlung in London. Vielleicht hatte sie vorschnell entschieden und sollte über dieses Rätsel zumindest nachdenken.
2
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eit nach Mitternacht verbarg sich die Armut von Whitechapel hinter blinden Fenstern und brüchigem Mauerwerk. In diesem Londoner Viertel gab es selten Augenzeugen für nächtliche Missetaten, und exakt aus diesem Grund hatte Gilian de Garou es ausgewählt. Diesmal war er besser vorbereitet denn je zuvor. Sein Rudel blockierte jeden Fluchtweg bis hinauf zu den Dächern. Zwar boten die Schatten der Häuser Deckung, aber keinen Ausweg. Das weit gespannte
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