Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
in den Weg zu treten. Sie blieben zurück, während er vorwärtsging. Jeder Schritt auf Dorothy zu war eine Mühsal, als würde er durch einen Traum waten und sich darin auflösen. Der Geruch von Brackwasser weckte seinen Wolfsinstinkt und ließ ihn zögern. War er bei Sinnen oder wieder einmal verhaftet in einem Wahn? Dorothy schien auf dem Grund eines Sees geruht zu haben. Vergraben im Schlick.
„Wende dich nicht von mir ab, Liebster.“
Ihre Bitte schauderte über seine Haut. Sie kam auf ihn zu, berührte ihn. Der Aufschrei seiner Männer kam aus großer Distanz. Er zog sie in eine feste Umarmung. Dorothy! Sie war zu ihm zurückgekehrt. Ein kalter Körper schmiegte sich an ihn. Wasser drang durch sein Hemd, traf auf seine Haut. Eisige Rinnsale, in denen jegliches Leben erloschen war. Ihre Hände umfassten sein Gesicht, und er blickte in Augen von der Schwärze eines Mahlstroms.
„Wo ist der Spiegel der Sonne?“, gurgelte es über ihre Lippen.
Zu spät erkannte er seinen Fehler. Wer immer diese Kreatur war, sie war nicht die Frau, die er liebte. Schmale Arme legten sich um seinen Nacken und drückten ihm die Luft ab. Ehe er die Gestalt von sich stoßen konnte, verschloss ihr Mund seine Lippen, drückte sie mit ungeahnter Gewalt auf. Wasser füllte seine Mundhöhle, rann seine Kehle hinab. Brackig floss es in seine Luftröhre und verwehrte ihm den nächsten Atemzug. Mit der Kraft des Wolfes kämpfte er gegen die eiserne Umschlingung. Er spürte festen Boden unter den Füßen und gleichzeitig ertrank er in einem See aus Finsternis. In den Augenwinkeln sah er Bewegungen. Er war umzingelt von Frauen. Eine nach der anderen löste sich aus der Nebelwand. Alle besaßen das Gesicht von Dorothy. Seine Männer schwangen die Rapiere, kämpften darum, ihn zu erreichen, hieben auf Dorothy in ihrer vielfältigen Gestalt ein. Um ihn herum sprühten Wasserfontänen auf. Die Kampfgeräusche wurden leiser und versiegten im Rauschen seiner Ohren. Seine Lungen brannten, wollten bersten. Er musste atmen! Undurchdringliche Schwärze kroch auf ihn zu. Wer war dieses Wesen? Was wollte es von ihm? Jegliche Frage erlosch mit seinem letzten Herzschlag.
Mit einem Ruck, als würde er klaftertief stürzen, schrak Juvenal aus dem Schlaf und starrte keuchend in die Dunkelheit. Überseinem Bett dräuten vom Alter geschwärzte Deckenbalken. Dies war nicht sein Hort, so viel wusste er. Fest rieb er über seinen schweißfeuchten Oberkörper. In seiner Brust schien ein Brand gewütet und seine Lungen versengt zu haben. Ein Feuer aus Eis und Frost. Tief sog er den Atem ein und suchte nach Orientierung. Ganz in der Nähe war ein leises Schnarchen zu hören. Das konstante Geräusch war ein Anker inmitten der Leere, durch die sein Geist trudelte. Sancho. Sein Omega lag auf einer Pritsche am anderen Ende des Zimmers, und dieses befand sich in einer Herberge. Juvenal setzte sich auf. Ihm gegenüber hing ein Spiegel an der Wand, dessen mattes Schimmern von einem Sprung im Glas durchbrochen wurde. Darunter befand sich eine Kommode. Endlich konnte er sich verorten. Er war in England, etliche Wegstunden von London entfernt.
Langsam sank er zurück auf das fadenscheinige Laken. Sobald er die Augen schloss, blitzten die Bilder seines Traumes auf. Eine Bibliothek. Bücherregale, die bis zu pittoresk verzierten Deckenbalken reichten. Ein Tisch aus Ebenholz, verloren in den Weiten des Raumes. Darauf ein Mann, dessen Gesicht unkenntlich blieb. Wasser. Überall Wasser. Es floss über die Buchrücken, sammelte sich am Boden und stieg an. Bis zur Brust hatte er darin gestanden und sich gegen die Wassermassen gestemmt. Er musste den Tisch und den Mann erreichen. Sonst würde etwas Furchtbares geschehen. Das Wasser zerrte an ihm, während er sich hindurchkämpfte. Erreichte sein Kinn, schlug über seinem Kopf zusammen. Kälte! So gewaltig, dass seine Glieder erstarrten.
Jäh schlug Juvenal die Augen wieder auf. Die Intensität des Albtraums bescherte ihm noch im Nachhinein eine Gänsehaut. Er warf die grobe Wolldecke zurück und stieg aus dem Bett.
„Sancho, wach auf!“
Das Schnarchkonzert endete mit einem Grunzlaut. „Diesmal habe ich nicht geschnarcht, Herr. Ganz sicher nicht.“
„Steh auf, wir müssen los!“
„Wir haben uns doch soeben erst hingelegt, Herr“, brummelte Sancho.
Kurzerhand nahm Juvenal einen Stiefel auf und warf ihn in Richtung Pritsche. Der Schuh prallte an der Wand ab und schreckte Sancho auf. Schlaftrunken kratzte der Omega
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