Der Fürst des Nebels
viel klarer zu sehen. Zumindest sagt man das immer.«
»Aber wer wird nach einer solchen Geschichte schlafen können?« platzte Max heraus.
»Deine Schwester hat recht«, sagte Roland.
»Schmeichler«, griff Max ihn an.
»Laß uns von etwas anderem reden...« entgegnete Roland. »Ich dachte daran, morgen wieder beim Schiff zu tauchen. Vielleicht finde ich den Sextanten wieder, der gestern jemandem heruntergefallen ist...«
Max formulierte in Gedanken eine abwehrende Antwort, denn er glaubte nicht, daß es eine gute Idee war, wieder bei der Orpheus tauchen zu gehen. Doch Alicia kam ihm zuvor.
»Wir werden dort sein«, antwortete sie leise. Ein sechster Sinn sagte Max, daß sie ihn nur aus reiner Höflichkeit mit einbezog.
»Dann bis morgen«, antwortete Roland, die strahlenden Augen auf Alicia gerichtet.
»Halt, mich gibt's auch noch«, jammerte Max scherzhaft.
»Bis morgen. Max«, sagte Roland und schwang sich auf sein Fahrrad.
Die beiden Geschwister sahen Roland im Unwetter davonfahren und blieben unter dem Vordach stehen, bis seine Silhouette auf der Straße am Strand verschwand.
»Du solltest dir trockene Kleider anziehen. Max. Während du dich umziehst, werde ich uns etwas zum Abendessen machen«, schlug Alicia vor.
»Du?« warf Max ihr an den Kopf. »Du kannst doch gar nicht kochen.«
»Wer hat denn gesagt, daß ich etwas kochen will, junger Mann? Das hier ist kein Hotel. Los, rein mit dir«, befahl Alicia schnippisch.
Max entschied sich, die Ratschläge seiner Schwester zu befolgen, und betrat das Haus. Ohne Irina und seine Eltern wirkte es leer, und wieder hatte Max das Gefühl, ein Eindringling in einem fremden Heim zu sein, stärker noch als zuvor. Während er die Treppe zu seinem Zimmer hinaufstieg, fiel ihm auf, daß er die widerwärtige Katze von Irina seit gestern nicht mehr gesehen hatte. Das erschien ihm nicht als ein großer Verlust, und so vergaß er diesen Gedanken gleich wieder.
Alicia verlor in der Küche nicht eine Sekunde mehr, als unbedingt notwendig war. Sie bestrich einige Scheiben dunkles Brot mit Butter und Marmelade und füllte zwei Gläser mit Milch.
Als Max dieses kärgliche Abendessen sah, sprach sein Gesichtsausdruck Bände.
»Halt bloß den Mund«, warnte ihn Alicia. »Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um zu kochen.« Sie aßen schweigend zu Abend, in der Hoffnung, daß das Telefon jeden Moment läuten würde, mit Nachrichten aus dem Krankenhaus. Aber der Anruf kam nicht.
»Vielleicht haben sie vorhin angerufen, als wir im Leuchtturm waren«, mutmaßte Max.
»Vielleicht«, murmelte Alicia.
Max konnte ihrem Gesicht ansehen, wie besorgt sie war.
»Wenn etwas passiert wäre«, argumentierte er, »hätten sie noch einmal angerufen. Es wird schon alles in Ordnung sein.«
Alicia lächelte schwach, und Max staunte wieder einmal über seine Fähigkeit, andere mit Beweisführungen zu trösten, die er selbst nicht glaubte.
»Das denke ich auch«, bestätigte Alicia. »Ich gehe jetzt schlafen. Und du?«
Max trank sein Glas aus und zeigte in Richtung Küche.
»Ich gehe dann auch gleich, aber vorher werde ich noch etwas anderes essen. Ich bin hungrig«, log er.
Sobald er hörte, wie sich die Tür von Alicias Zimmer schloß, ging Max zu dem Schuppen, auf der Suche nach weiteren Filmen aus der Privatsammlung von Jacob Fleischmann.
Max schaltete den Projektor ein, und der Lichtstrahl überflutete die Wand mit einem unscharfen Bild, das wie eine Zusammenstellung von Symbolen aussah. Langsam wurde die Aufnahme schärfer, und Max begriff, daß die vermeintlichen Symbole nichts anderes als Ziffern waren, angeordnet in einem Kreis - er blickte auf das Zifferblatt einer Uhr. Die Zeiger der Uhr bewegten sich nicht und warfen einen scharf abgegrenzten Schatten auf das Zifferblatt. Die Aufnahme war offenbar in der prallen Sonne oder unter einer starken Lichtquelle gemacht worden. Der Film zeigte einige Sekunden lang weiter das Zifferblatt, und schließlich begannen die Uhrzeiger, anfangs langsam und dann mit zunehmender Geschwindigkeit, sich gegen den Uhrzeigersinn zu drehen. Die Kamera wich zurück, und das Auge des Zuschauers konnte erkennen, daß diese Uhr an einer Kette hing. Ein erneutes Zurückweichen von etwa eineinhalb Metern offenbarte, daß die Kette von einer weißen Hand herunterbaumelte. Es war die Hand einer Statue.
Max erkannte sofort den Skulpturengarten wieder, der schon im ersten Film von Jacob Fleischmann aufgetaucht war. Wieder war die Anordnung der Statuen anders als die, an die Max
Weitere Kostenlose Bücher