Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
früher eingefallen? Er schaute auf seine Uhr und stellte fest, daß es zehn Minuten nach zwei war. Er nahm sein Fahrrad und bog in die baumbestandene Hauptstraße des Dorfes ein in Richtung Friedhof, wo er hoffte Jacob Fleischmann zu finden.
    Der Dorffriedhof war ein klassischer rechteckiger, umgrenzter Platz. Er lag am Ende einer breiten, ansteigenden Straße, die von hohen Zypressen flankiert war. Nichts Außergewöhnliches. Die Steinmauern waren alt, und der Ort bot den üblichen Anblick von Friedhöfen kleiner Dörfer. Außer an Feiertagen und wenn Beerdigungen stattfanden, gab es hier wohl selten Besucher. Die Gittertore standen offen, und eine rostige Metalltafel gab die Öffnungszeiten bekannt: von neun bis fünf Uhr nachmittags im Sommer und von acht bis vier im Winter. Falls es einen Wärter gab, konnte Max ihn nicht sehen.
    Auf dem Weg hierher hatte er damit gerechnet, einen düsteren und unheimlichen Ort vorzufinden, aber die strahlende Sonne des Frühsommers verlieh dem Friedhof das Aussehen eines kleinen Kreuzgangs, er wirkte ruhig und nur ein wenig traurig.
    Max lehnte das Fahrrad an die Außenmauer und trat durch das Tor. Der Friedhof war dicht angefüllt mit bescheidenen Mausoleen, die wahrscheinlich ortsansässigen Familien mit längerer Familientradition gehörten, und ringsherum erhoben sich Wände mit neueren Nischengräbern.
    Max hatte sich gefragt, ob die Fleischmanns es seinerzeit vielleicht vorgezogen hatten, den kleinen Jacob fern von hier zu begraben. Aber seine Intuition sagte ihm, daß die sterblichen Reste des Erben von Doktor Fleischmann gewiß in demselben Dorf ruhten, in dem er auf die Welt gekommen war. Max brauchte fast eine halbe Stunde, bis er Jacobs Grab gefunden hatte, das am Rand des Friedhofs im Schatten von zwei alten Zypressen lag. Es handelte sich um ein kleines Mausoleum aus Stein, dem die Zeit und der Regen einen Anstrich von Verlassenheit und Vergessen verliehen hatten. Das schmale Bauwerk aus geschwärztem und schmutzigem Marmor hatte ein schmiedeeisernes Tor, das von zwei Engelsstatuen flankiert war, die einen klagenden Blick gen Himmel richteten. An den rostigen Stäben des Tors hing seit undenklichen Zeiten ein Strauß trockener Blumen.
    Max ließ die feierliche Aura dieses Ortes auf sich wirken. Obwohl diese Grabstätte offensichtlich schon seit langer Zeit nicht mehr besucht worden war, schien der Nachhall von all dem Schmerz und Unglück noch immer gegenwärtig. Auf dem kleinen Weg aus Steinplatten, der zu dem Mausoleum hinführte, ging Max langsam näher. An der Schwelle blieb er stehen. Das Tor stand halb offen, und ein intensiver modriger Geruch strömte aus dem Inneren. Um Max herum herrschte absolute Stille. Er richtete einen letzten Blick auf die Engel aus Stein, die Jacob Fleischmanns Grab bewachten, und trat ein. Er wußte, daß er, wenn er noch eine Minute länger wartete, diesen Ort fluchtartig verlassen würde. Das Innere des Mausoleums war in ein Halbdunkel getaucht, und am Boden konnte Max undeutlich eine Spur verwelkter Blumen erkennen. Sie endete am Fuß eines Grabsteins, auf den der Name Jacob Fleischmann eingemeißelt war. Aber da war noch etwas anderes. Auf der Steinplatte prangte direkt unter dem Namen das Zeichen des siebenendigen Sterns in einem Kreis.
    Max spürte ein unangenehmes Kribbeln im Rücken und fragte sich, warum er diesen Ort alleine aufgesucht hatte. Hinter ihm schien das Licht der Sonne langsam zu verblassen. Max zog seine Uhr hervor und sah nach, wie spät es war, denn ihm kam plötzlich die absurde Idee, er hätte sich vielleicht zu lange aufhalten lassen und der Friedhofswärter hätte die Türen schon geschlossen und ihn im Inneren eingesperrt. Doch es war erst einige Minuten nach drei. Max atmete tief ein und beruhigte sich.
    Er warf einen letzten flüchtigen Blick auf den Grabstein, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß es hier nichts gab, was neues Licht auf die Geschichte des Dr. Cain werfen würde, schickte er sich an zu gehen. Da bemerkte er, daß er nicht allein war im Inneren des Mausoleums. Eine dunkle Silhouette bewegte sich im Dachgestühl, geheimnisvoll voranschreitend wie ein Insekt. Max spürte, wie ihm seine Uhr aus den schweißnassen Fingern glitt, und er hob den Blick. Einer der Engel aus Stein, die er beim Eingang gesehen hatte, lief mit dem Kopf nach unten das Dachgebälk entlang. Die Figur blieb stehen. Sie sah Max an, ließ ein hündisches Lachen hören und streckte anklagend einen spitzen Finger

Weitere Kostenlose Bücher