Der Fürst des Nebels
sich erinnerte. Die Kamera begann erneut, sich zwischen den Figuren zu bewegen, ohne Schnitte oder Pausen, genauso wie im ersten Film. Alle paar Meter hielt das Objektiv der Kamera vor dem Gesicht einer der Statuen inne. Max musterte die erstarrten Gesichter eines nach dem anderen. Jetzt konnte er sich die Mitglieder dieser Zirkustruppe vorstellen, wie sie in dem völlig dunklen Schiffsraum der Orpheus im eiskalten Was
ser zugrunde gingen.
Schließlich näherte sich die Kamera langsam der Figur, die den Mittelpunkt des siebenendigen Sterns bildete. Der Clown, Dr. Cain. Der Fürst des Nebels. Neben ihm, direkt zu seinen Füßen, erkannte Max die unbewegliche Figur einer Katze, die ihre scharfen Krallen ins Leere ausstreckte. Max, der sich nicht daran erinnerte, sie bei seinem Besuch im Skulpturengarten gesehen zu haben, hätte zwei zu eins gewettet: Die Ähnlichkeit des steinernen Katzentieres mit dem Maskottchen, das Irina am ersten Tag auf dem Bahnhof aufgenommen hatte, war bestimmt kein Zufall. Während er beim Geräusch des Regens, der gegen die Fensterscheiben schlug, diese Bilder betrachtete, erschien es ihm ganz leicht, der Geschichte Glauben zu schenken, die der Leuchtturmwärter ihnen an diesem Nachmittag erzählt hatte. Die unheimliche Anwesenheit dieser bedrohlichen Gestalten genügte, um jeden Zweifel zu beseitigen, so angebracht er auch sein mochte.
Die Kamera ging nun nahe an das Gesicht des Clowns heran, hielt kaum einen halben Meter vor ihm inne und blieb dort einige Sekunden lang stehen. Max warf einen flüchtigen Blick auf die Filmspule und stellte fest, daß der Film zu Ende ging und daß nur noch ein paar Meter zum Ansehen übrigblieben. Eine Bewegung auf der Leinwand erregte seine Aufmerksamkeit wieder. Das Gesicht aus Stein bewegte sich auf fast unmerkliche Art und Weise. Max richtete sich auf und lief zu der Wand, auf die der Film projiziert war. Die Pupillen dieser Augen aus Stein weiteten sich, und die Lippen aus Stein krümmten sich langsam zu einem grausamen Lächeln, das eine lange Reihe von scharfen Zähnen offenbarte, wie die eines Wolfs. Max bekam einen Knoten im Hals. Sekunden später verschwand das Bild, und Max hörte das Geräusch der Filmspule, die sich um sich selbst drehte. Der Film war zu Ende.
Max schaltete den Projektor aus und atmete tief durch. Jetzt glaubte er alles, was Victor Kray gesagt hatte. Aber deswegen fühlte er sich nicht besser, ganz im Gegenteil. Er ging hinauf in sein Zimmer und zog die Tür hinter seinem Rücken zu. Durch das Fenster konnte er in der Ferne undeutlich den Skulpturengarten ausmachen. Wieder waren die Umrisse des Steingartens in einen dichten und undurchdringlichen Nebel getaucht.
In dieser Nacht jedoch kam die tanzende Finsternis nicht vom Wald her, sondern aus seinem eigenen Inneren. Während Max sich vergeblich bemühte, einzuschlafen und das Gesicht des Clowns aus seinem Gedächtnis zu vertreiben, stellte er sich vor, daß dieser Nebel nur der eiskalte Atem des Dr. Cain war, der lächelnd auf die Stunde seiner Rückkehr wartete.
Kapitel 12
A m nächsten Morgen wachte Max mit dem Gefühl auf, den Kopf voller Gelatine zu haben. Nach dem, was man vom Fenster aus erkennen konnte, versprach es ein strahlender und sonniger Tag zu werden. Er richtete sich schwerfällig auf und nahm seine Taschenuhr vom Nachttisch. Zuerst dachte er, daß die Uhr nicht mehr ging. Er legte sie an sein Ohr und stellte fest, daß das Uhrwerk perfekt funktionierte – er selbst war es also, der ein wenig vom Kurs abgekommen war. Es war zwölf Uhr mittags.
Er sprang aus dem Bett und stürzte die Treppe hinunter. Auf dem Eßzimmertisch lag ein Zettel. Er nahm ihn und las die zarte Handschrift seiner Schwester.
Guten Morgen, Siebenschläfer!
Wenn Du das hier liest, bin ich schon mit Roland am Strand. Ich habe mir Dein Fahrrad ausgeliehen, ich hoffe, das macht Dir nichts aus. Ich habe gesehen, daß Du gestern nacht »im Kino« warst, darum wollte ich Dich nicht wecken. Papa hat heute früh angerufen, und er sagt, daß sie immer noch nicht wissen, wann sie nach Hause zurückkommen können. Irina geht es immer gleich, aber die Ärzte sagen, daß sie wahrscheinlich in einigen Tagen aus dem Koma erwacht. Ich habe Papa davon überzeugt, daß er sich keine Sorgen um uns machen muß (und das war nicht leicht).
Es gibt jedenfalls nichts zum Frühstücken. Wir sind am Strand. Träum schön...
Alicia
Max las den Zettel dreimal, bevor er ihn wieder auf den Tisch legte. Er
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