Der Fürst des Nebels
rannte die Treppe hinauf und wusch sich rasch das Gesicht. Er schlüpfte in eine Badehose und in ein blaues Hemd und ging zum Schuppen, um das andere Fahrrad zu nehmen. Doch noch bevor er den Strandweg erreicht hatte, meldete sich sein Magen und forderte energisch etwas zum Essen. Als er im Dorf ankam, nahm er Kurs auf die Bäckerei am Rathausplatz. Die Düfte, die fünfhundert Meter vom Laden entfernt schon zu riechen waren, und das freudige Knurren seines Magens bestätigten ihm, daß er sich richtig entschieden hatte. Drei Biskuittörtchen und zwei kleine Tafeln Schokolade später machte er sich auf den Weg zum Strand, mit einem glückseligen Lächeln im Gesicht. Alicias Fahrrad stand am Fuß des Weges, der zu dem Strand führte, wo Roland seine Hütte hatte. Max ließ sein Fahrrad neben dem seiner Schwester stehen und dachte, daß es – obwohl das Dorf keine Hochburg für Diebe zu sein schien – vielleicht eine gute Idee wäre, Sicherheitsschlösser zu kaufen. Er hielt inne, um den Leuchtturm oben auf der Steilküste zu betrachten, dann ging er in Richtung Strand. Ein paar Meter bevor er aus dem Fußpfad zwischen den hohen Pflanzen heraustrat, die die kleine Bucht umgaben, blieb er stehen.
Am Strand, ungefähr zwanzig Meter von dem Punkt entfernt, an dem Max sich befand, lag Alicia ausgestreckt auf dem nassen Sand. Roland war über sie gebeugt. Er legte seine Hand auf Alicias Taille, näherte sich ihrem Gesicht und küßte sie auf die Lippen. Max wich einen Meter zurück und versteckte sich hinter den Pflanzen. Er hoffte, daß die beiden ihn nicht gesehen hatten. Einen Augenblick lang blieb er unbeweglich stehen und fragte sich, was er jetzt tun sollte. Wie ein lächelnder Vollidiot unten auftauchen und guten Morgen sagen? Oder weggehen und eine Spazierfahrt machen?
Max wollte sich nicht wie ein Spion vorkommen, aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen, erneut zwischen den wilden Stengeln hindurch zu seiner Schwester und Roland hinüberzuschauen. Er hörte ihr Lachen und beobachtete, wie Rolands Hände zaghaft über Alicias Körper glitten, mit einem Zittern, das verriet, daß er wohl noch nicht oft ein Mädchen gestreichelt hatte. Max fragte sich, ob es auch für Alicia das erste Mal war, und zu seinem Erstaunen wußte er keine Antwort. Obwohl er sein ganzes Leben mit ihr unter einem Dach verbracht hatte, war seine Schwester Alicia ein Geheimnis für ihn.
Sie dort zu sehen, wie sie auf dem Strand ausgestreckt lag und Roland küßte, verwirrte ihn und traf ihn völlig unerwartet. Er hatte von Anfang an geahnt, daß es zwischen Roland und ihr eine deutliche gegenseitige Zuneigung gab, aber es war eine Sache, sich das vorzustellen, und eine andere, eine ganz und gar andere, es mit eigenen Augen zu sehen. Er beugte sich noch einmal vor, um sie zu beobachten, und spürte plötzlich, daß er kein Recht hatte, hier zu sein. Dieser Augenblick gehörte nur seiner Schwester und Roland. Still ging er zum Fahrrad zurück und entfernte sich vom Strand.
Unterwegs fragte er sich, ob er vielleicht eifersüchtig war. Vielleicht störte ihn aber auch nur die Tatsache, daß er Jahre in der Überzeugung verbracht hatte, Alicia sei ein großes Kind und habe keine Geheimnisse, und daß er deshalb natürlich nie daran gedacht hatte, sie könnte irgend jemanden küssen. Jetzt mußte er lachen über seine eigene Naivität, und allmählich begann er sich zu freuen über das, was er gesehen hatte. Niemand konnte wissen, was die folgende Woche bringen mochte oder was bis zum Ende des Sommers geschehen würde – aber an diesem Tag, da war Max sicher, fühlte seine Schwester sich glücklich. Und das war viel mehr, als man von ihr seit vielen Jahren sagen konnte.
Max radelte zurück ins Zentrum des Dorfes und blieb mit seinem Fahrrad vor der Stadtbibliothek stehen. Am Eingang war ein alter Glasschaukasten, wo die Öffnungszeiten und andere amtliche Mitteilungen bekanntgegeben wurden, außerdem hingen dort das Monatsprogramm des einzigen Kinos weit und breit und ein Plan des Dorfes. Aufmerksam studierte Max den Plan. Der Grundriß des Dorfes entsprach im großen und ganzen dem gedanklichen Modell, das er sich gemacht hatte. Der Plan zeigte das Dorf in allen Einzelheiten: Da waren das Ortszentrum, der nördliche Strand, wo die Carvers ihr Haus hatten, die Bucht mit der Orpheus und der Leuchtturm, die Sportplätze beim Bahnhof und der Gemeindefriedhof. Ein Gedanke blitzte in ihm auf. Der Gemeindefriedhof. Warum war ihm das nicht
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