Der Fürst des Nebels
einsamsten fühlte.
Victor Kray versuchte, die bittere Erinnerung an sein ganzes Leben, das mit dieser unheimlichen Gestalt verbunden war, aus seinem Geist zu vertreiben. Der Fürst des Nebels hatte ihm den besten Freund seiner Kindheit genommen, die einzige Frau, die er geliebt hatte, und schließlich hatte er ihm jede Minute seines langen späteren Lebens geraubt, indem er ihn in einen Schatten seiner selbst verwandelte. Während der endlosen Nächte im Leuchtturm pflegte sich Victor Kray vorzustellen, wie sein Leben hätte sein können, wenn das Schicksal seinen Weg nicht mit dem dieses mächtigen Magiers gekreuzt hätte. Anstelle von Erinnerungen würden ihn in seinen letzten Lebensjahren nur die Traumbilder einer Biographie begleiten, die er niemals gelebt hatte. Seine einzige Hoffnung lag jetzt in Roland und in dem festen Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte: Er wollte dem Jungen eine Zukunft fern von diesem Alptraum ermöglichen. Es blieb nur noch sehr wenig Zeit, und die Kräfte des Leuchtturmwärters waren mit den Jahren geschwunden. In nicht einmal ganz zwei Tagen würde sich jene Nacht, in der die Orpheus wenige Meter von hier untergegangen war, zum fünfundzwanzigsten Mal jähren, und Victor Kray konnte spüren, wie Cain mit jeder Minute, die verstrich, größere Macht gewann.
Der Alte ging ans Fenster und betrachtete den schwarzen Umriß der Orpheus unten im blauen Wasser der Bucht. Es blieben noch einige Sonnenstunden, bevor es dunkel würde. Und die kommende Nacht würde vielleicht die letzte sein, die er im Leuchtturm verbrachte.
Als Max das Haus am Strand betrat, lag Alicias Nachricht noch immer auf dem Eßzimmertisch. Seine Schwester war also noch nicht zurückgekehrt und noch immer mit Roland zusammen. Die Einsamkeit, die im Haus herrschte, entsprach Max' innerer Verfassung. Die Worte des Alten hallten in ihm nach. Obwohl ihn die Art und Weise, wie der Leuchtturmwärter ihn behandelt hatte, verletzt hatte, hegte Max keinerlei Groll gegen den alten Mann. Gewiß, Victor Kray verbarg etwas; aber Max war sicher, daß er, wenn er so handelte, einen wichtigen Grund dafür haben mußte. Er ging in sein Zimmer hinauf und streckte sich auf seinem Bett aus. Die Angelegenheit ging ihm allmählich auf die Nerven. Obwohl die einzelnen Bestandteile des Rätsels langsam klarere Konturen gewannen, hatte er keine Ahnung, wie man sie zusammenfügen mußte.
Vielleicht sollte er Victor Krays Ratschlägen folgen und die ganze Angelegenheit vergessen, auch wenn es nur für ein paar Stunden wäre. Er schaute auf den Nachttisch und sah das Buch über Kopernikus dort liegen: seit einigen Tagen hatte er es nicht mehr beachtet. Nun erschien es ihm wie ein rationales Gegenmittel gegen all die Rätsel, die ringsherum existierten. Er öffnete das Buch an der Stelle, an der er seine Lektüre aufgehört hatte, und versuchte, sich auf die wissenschaftlichen Untersuchungen über die Bahn der Planeten im Weltall zu konzentrieren. Wahrscheinlich hatte Kopernikus mit Hilfe von ein paar Perlen den Lösungsweg zu seinem Geheimnis gefunden. Aber er war mit seinen Einsichten offenbar zum falschen Zeitpunkt gekommen. Einmal mehr hatte Max das beklemmende Gefühl, daß es in diesem unendlichen Weltall allzu viele Dinge gab, die der menschliche Verstand nicht fassen konnte.
Kapitel 13
S tunden später, als Max schon zu Abend gegessen hatte und ihm nur noch zehn Seiten des Buches zum Lesen übrigblieben, drang ein Geräusch an sein Ohr. Fahrräder wurden in den vorderen Garten hineingeschoben, und er hörte das Murmeln der Stimmen von Roland und Alicia, die unten beim Hauseingang lange miteinander flüsterten. Gegen Mitternacht legte Max das Buch wieder auf den Nachttisch und schaltete die Lampe aus. Schließlich hörte er Rolands Fahrrad, wie es sich auf dem Strandweg entfernte, und Alicias Schritte, die langsam die Treppe hinaufstiegen. Vor seiner Tür hielt seine Schwester einen Moment lang inne, doch dann ging sie weiter in ihr Zimmer. Max hörte, wie sie die Schuhe auf den Holzboden fallen ließ und sich auf dem Bett ausstreckte. Er erinnerte sich an das Bild, das er an diesem Morgen gesehen hatte – Roland und Alicia, die sich am Strand geküßt hatten –, und lächelte im Halbdunkel. Dieses eine Mal war er sicher, daß seine Schwester erst viel später einschlafen würde als er.
Am folgenden Morgen stand Max schon vor Tagesanbruch auf und radelte in Richtung Bäckerladen, um dort ein köstliches Frühstück zu kaufen.
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