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Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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letzten Tür, die zu dem Zimmer führte, das Irina vor ihrem Unfall bewohnt hatte. Die Tür öffnete sich, und die Kamera drang in das Zimmer ein, das im Halbdunkel lag und völlig leer war. Vor der Tür des Wandschrankes blieb sie stehen.
    Es verstrichen mehrere Filmsekunden, ohne daß etwas passierte und ohne daß die Kamera irgendeine Bewegung in dem unbewohnten Raum aufzeichnete. Plötzlich öffnete sich die Tür des Schrankes schwungvoll und schlug gegen die Wand, in ihren Scharnieren schaukelnd. Max strengte seinen Blick an, um herauszufinden, was da undeutlich im Inneren des dunklen Schrankes zu sehen war, und er beobachtete, wie eine Hand in einem weißen Handschuh aus der Finsternis auftauchte. Sie hielt einen glänzenden Gegenstand, der an einer Kette herunterhing. Max wußte, was nun kam: Dr. Cain stieg aus dem Schrank und lächelte in die Kamera.
    Max erkannte das Zifferblatt der Uhr wieder, die der Fürst des Nebels in seinen Händen hielt: Es war die Uhr, die sein Vater ihm geschenkt hatte und die er im Inneren des Mausoleums von Jacob Fleischmann verloren hatte. Jetzt war sie im Besitz des Magiers, der sie auf irgendeine unerfindliche Weise mitgenommen hatte in die gespenstische Dimension der Schwarzweißbilder, die aus dem alten Projektor hervorkamen.
    Die Kamera näherte sich der Uhr, und Max konnte genau sehen, wie die Zeiger auf dem Zifferblatt in einer überraschenden und sich immer noch steigernden Geschwindigkeit rückwärts gingen, bis sie so schnell waren, daß man sie nicht mehr erkennen konnte. Kurz darauf kamen Rauch und Funken aus dem Zifferblatt, und schließlich ging die Uhr in Flammen auf. Max betrachtete dieses Bild wie gebannt, er konnte seine Augen nicht von der brennenden Uhr abwenden. Einen Moment später schwenkte die Kamera plötzlich zur Zimmerwand und visierte einen alten Schminktisch an, über dem ein Spiegel zu erkennen war. Sie näherte sich ihm und hielt inne. Jetzt zeigte der Film ganz deutlich das Bild dessen, der die Kamera hielt.
    Max schluckte. Endlich sah er das Gesicht der Person, die die Filme vor Jahren in diesem Haus gedreht hatte. Er erkannte dieses kindliche, lächelnde Gesicht wieder, das sich da selbst filmte. Es war einige Jahre jünger, aber die Gesichtszüge und der Blick glichen ganz denen, die Max in den letzten Tagen gut kennengelernt hatte – es waren die von Roland.
    Der Film blieb im Inneren des Projektors stecken, und die vor der Linse festgeklemmte Einzelaufnahme begann in dem starken Lichtstrahl langsam zu schmelzen. Max schaltete den Projektor aus und preßte die Fäuste zusammen, um das Zittern zurückzuhalten, das seine Hände erfaßt hatte. Jacob Fleischmann und Roland waren ein und dieselbe Person.
    Das Licht eines Blitzes erfüllte den finsteren Raum für den Bruchteil einer Sekunde, und Max bemerkte daß eine Gestalt hinter dem Fenster an die Scheibe klopfte und Zeichen machte, er möge sie hereinlassen. Max schaltete das Licht im Wohnzimmer an und erkannte das leichenblasse und zu Tode erschreckte Gesicht von Victor Kray. Seinem Aussehen nach mußte er gerade eine gespenstische Vision erlebt haben. Max ging zur Tür und ließ den Alten herein. Sie hatten viel zu bereden.
Kapitel 15
    M ax reichte dem Leuchtturmwärter eine Tasse heißen Tee und wartete darauf, daß sich der Alte aufwärmte. Victor Kray zitterte, und Max wußte nicht, ob sein Zustand dem kalten Wind zuzuschreiben war, den das Unwetter mit sich gebracht hatte, oder der Furcht, die der Alte nicht länger zurückdrängen konnte.
    »Was haben Sie dort draußen gemacht, Señor Kray?« fragte Max.
»Ich war im Skulpturengarten«, antwortete der Alte, der langsam wieder etwas zur Ruhe kam. Er schlürfte ein wenig Tee aus der dampfenden Tasse und stellte sie auf den Tisch.
»Wo ist Roland, Max?« fragte der Alte nervös. »Warum wollen Sie das wissen?« erwiderte Max.
Nach all dem, was er soeben herausgefunden hatte, konnte er sein Mißtrauen dem Alten gegenüber nicht mehr verbergen.
Der Leuchtturmwärter spürte seinen Argwohn und begann, mit den Händen zu gestikulieren, als ob er etwas sagen wollte und die Worte nicht fand. »Max, etwas Schreckliches wird heute nacht geschehen, wenn wir es nicht verhindern«, sagte Victor Kray schließlich. »Ich muß wissen, wo Roland ist. Sein Leben ist in großer Gefahr.« Max blieb stumm und studierte das flehende Gesicht des Alten.
»Welches Leben, Señor Kray, das von Roland oder das von Jacob Fleischmann?« fragte er schließ lich und

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