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Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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darüber sprechen wollte.
»Wie fühlst du dich?« drängte ihn seine Schwester.
»Ehrlich?« fragte Max.
Alicia nickte.
»Ich glaube, ich muß mich übergeben«, sagte Max mit einem schiefen Lächeln. »In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie schlechter gefühlt.«
Alicia umarmte ihren Bruder heftig. Max blieb unbeweglich und mit herabhängenden Armen stehen. Alicias Überschwang überraschte ihn; er wußte nicht, ob dies Ausdruck geschwisterlicher Liebe war oder die Folge des Entsetzens, das sie kurz zuvor durchlitten hatte.
»Ich hab dich gern, Max«, flüsterte Alicia ihm zu. »Hast du gehört?«
Max schwieg betreten. Alicia entließ ihn aus ihrer Umarmung und drehte sich zur Tür der Hütte um. Obwohl sie ihm den Rücken zuwandte, bemerkte Max, daß seine Schwester weinte.
»Vergiß das nie, kleiner Bruder«, flüsterte sie. »Und jetzt schlaf ein wenig. Ich werde das auch tun.«
»Wenn ich jetzt schlafe, werde ich nie wieder aufstehen«, seufzte Max.
Fünf Minuten später waren die drei Freunde in der Hütte am Strand fest eingeschlafen, und niemand auf der Welt hätte sie aufwecken können.
Kapitel 14
    A ls die Abenddämmerung hereinbrach, befand sich Victor Kray hundert Meter von dem Haus am Strand entfernt, in dem nun die Carvers wohnten. Es war das Haus, in dem Eva Gray, die einzige Frau, die er wirklich geliebt hatte, Jacob Fleischmann auf die Welt gebracht hatte. Der Anblick der weißen Fassade der Villa öffnete in seinem Innersten wieder die Wunden, die er längst für verheilt gehalten hatte. Die Lichter des Hauses waren erloschen, und der Ort schien leer. Victor Kray nahm an, daß die Kinder noch mit Roland im Dorf sein mußten.
    Der Leuchtturmwärter lief über den Weg bis zum Haus und trat durch das Tor in dem weißen Zaun, der es umgab. Dieselbe Tür und dieselben Fenster, an die er sich noch genau erinnerte, leuchteten unter den letzten Strahlen der Sonne. Der Alte durchquerte den Garten bis zu dem hinteren Hof und ging auf das Feld hinaus, das sich hinter dem Haus am Strand erstreckte. In der Ferne erhob sich der Wald und an seinem Rand der Skulpturengarten. Seit langer Zeit war er nicht mehr an diesen Ort zurückgekommen, und er blieb stehen, um ihn aus der Ferne zu betrachten, voller Angst vor dem, was sich hinter seinen Mauern verbarg. Dichter Nebel drang durch die dunklen Gitterstäbe am Tor des Skulpturengartens und breitete sich in Richtung des Wohnhauses aus.
    Victor Kray fürchtete sich, und er fühlte sich alt. Die Angst, die ihm die Seele zerfraß, glich der, die er vor Jahrzehnten in den Gassen der Arbeitervorstadt empfunden hatte, als er zum ersten Mal die Stimme des Nebelfürsten gehört hatte. Jetzt, an seinem Lebensabend, schien sich der Kreis zu schließen, und der Alte spürte bei jedem Spielzug, daß ihm die Trümpfe fehlten für den letzten Stich.
    Dennoch ging er nun mit festem Schritt zum Eingang des Skulpturengartens. Bald hatte ihn der Nebel, der aus dem Inneren hervorquoll, bis zur Taille eingehüllt. Victor Kray steckte seine zittrige Hand in die Manteltasche und zog eine starke Lampe hervor und seinen alten Revolver, den er, bevor er aufgebrochen war, noch gewissenhaft geladen hatte. Mit der Waffe in der Hand betrat er den umzäunten Platz, machte die Lampe an und erleuchtete das Innere des Gartens. Der Lichtstrahl offenbarte ein ungewöhnliches Bild. Victor Kray senkte die Waffe und rieb sich die Augen, denn er glaubte zunächst. Opfer einer Sinnestäuschung zu sein. Irgend etwas war hier nicht in Ordnung, oder zumindest war es nicht so, wie er es anzutreffen erwartet hatte. Er ließ den Lichtstrahl der Lampe wieder den Nebel durchschneiden. Es war keine Einbildung: Der Skulpturengarten war leer.
    Der Alte ging näher heran und betrachtete bestürzt die verlassenen und einsamen Sockel. Während er Versuchte, seine Gedanken wieder zu ordnen, nahm er das Rauschen eines herannahenden Unwetters wahr, und er hob den Blick zum Horizont. Ein bedrohlicher Mantel aus dunklen und unruhigen Wolken breitete sich über den Himmel aus wie ein Tintenklecks auf einem Wasserbecken. Ein Blitz teilte den Himmel, und das Echo eines Donnerschlags erreichte die Küste wie ein warnender Trommelwirbel vor einer Schlacht. Victor Kray lauschte auf die Litanei des Gewitters, das sich über dem Meer zusammenbraute, und als er sich schließlich daran erinnerte, daß er genau die gleiche Szene vor fünfundzwanzig Jahren von Bord der Orpheus aus beobachtet hatte, begriff er, was bald geschehen

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