Der Fürst des Nebels
würde.
Max wachte in kalten Schweiß gebadet auf. Er wußte nicht, wo er sich befand, und er spürte sein Herz unruhig klopfen. Wenige Meter von ihm entfernt erkannte er ein vertrautes Gesicht: Alicia, die neben Roland schlief; und endlich erinnerte er sich, daß er in der Hütte am Strand war. Er hatte das Gefühl, kaum länger als einige Minuten geschlafen zu haben, doch in Wirklichkeit war fast eine ganze Stunde vergangen. Max richtete sich schweigend auf und ging nach draußen. Er brauchte dringend frische Luft, um die Bilder eines beklemmenden Alptraums vom Ersticken zu vertreiben, in dem er und Roland im Schiffsrumpf der Orpheus gefangen gewesen waren.
Der Strand war leer, und die Flut hatte Rolands Boot abgetrieben an eine Stelle, wo die Strömung es sehr bald mit sich reißen würde; der kleine Kahn wäre dann für immer in der unermeßlichen Weite des Ozeans verloren. Max ging zum Meeresufer und benetzte sich das Gesicht und die Achseln mit dem kühlen Meereswasser. Er lief ein Stück weiter und setzte sich in einer kleinen Bucht zwischen die Felsen, die Füße ins Wasser getaucht, in der Hoffnung, hier die Ruhe zu finden, die ihm der Schlaf nicht hatte verschaffen können.
Max ahnte, daß sich hinter den Ereignissen der letzten Tage irgendeine geheime Logik verbarg. Gefahr lag in der Luft, und bei genauerem Nachdenken konnte man eine aufsteigende Linie in Dr. Cains Erscheinungen erkennen. Mit jeder Stunde, die verstrich, schien der Fürst des Nebels größere Macht zu erlangen. Max war überzeugt davon, daß alles, was in den letzten Tagen geschehen war. Teil eines komplexen Mechanismus sein mußte, in dem sich eins zum anderen fügte und einen geheimen Zusammenhang ergab. Im Mittelpunkt all dieser Ereignisse stand zweifellos die dunkle Vergangenheit von Jacob Fleischmann. Hier verdichteten sich die Facetten des Geheimnisses, von dem mysteriösen Skulpturengarten, den Jacob immer wieder gefilmt hatte, bis hin zu jenem unbeschreiblichen Geschöpf, das am Nachmittag beinahe das Leben von Roland und Max beendet hätte.
Während Max über die Ereignisse dieses Tages nachdachte, begriff er, daß sie sich nicht leisten konnten, ein neues Treffen mit Dr. Cain abzuwarten, ehe sie handelten. Sie mußten seinen Spielzügen zuvorkommen und versuchen, seinen nächsten Schritt vorherzusehen. Für Max gab es nur einen Weg, das zu tun: Er mußte der Spur folgen, die Jacob Fleischmann vor Jahren in seinen Filmen gelegt hatte.
Ohne Alicia und Roland zu wecken, stieg Max auf sein Fahrrad und schlug den Weg zum Haus am Strand ein. In der Ferne, über der Horizontlinie, tauchte ein dunkler Fleck aus dem Nichts auf und begann sich wie eine Wolke aus tödlichem Gas auszubreiten. Ein Unwetter braute sich zusammen. Zurück im Haus der Carvers, fädelte Max eine Filmrolle in die Spule des Projektors ein. Während er mit dem Fahrrad hierhergefahren war, war die Temperatur draußen deutlich gesunken, und sie sank weiter. Zwischen den gelegentlichen Windstößen, die gegen die Fensterläden des Hauses schlugen, war das erste Donnergrollen des Gewitters zu hören. Bevor er den Film abspielte, eilte Max die Treppe hinauf und zog sich trockene und warme Kleidung an. Die alte Holzstruktur des Hauses knarzte unter seinen Füßen, sie schien dem heftigen Wind nur mit Mühe standhalten zu können. Während Max sich umzog, bemerkte er von seinem Zimmerfenster aus, daß das Unwetter immer näher rückte. Der Mantel aus Dunkelheit, den es über den Himmel warf, nahm den Einbruch der Nacht um ein paar Stunden vorweg. Er drückte den Verschluß des Fensters fester zu und ging wieder ins Wohnzimmer hinunter, um den Projektor einzuschalten.
Wieder erwachten die Bilder an der Wand zum Leben, und Max konzentrierte sich ganz auf das, was er sah. Diesmal filmte die Kamera einen vertrauten Schauplatz: die Flure des Hauses am Strand. Max erkannte das Innere des Wohnzimmers wieder, in dem er sich jetzt gerade befand und den Film ansah. Die Raumausstattung und die Möbel waren anders, und das Haus bot einen luxuriösen und prächtigen Anblick. Das Auge der Kamera beschrieb gemächliche Kreise und glitt über Wände und Fenster des Hauses. Es kam Max vor, als hätte sich eine Tür in den unumkehrbaren Zeitläufen geöffnet, die es ihm erlaubte, das Haus vor fast zehn Jahren zu besichtigen.
Nach ein paar Minuten im unteren Stockwerk versetzte der Film den Betrachter in den oberen Stock. Von der Schwelle des Korridors aus näherte sich die Kamera der
Weitere Kostenlose Bücher