Der futurologische Kongreß
man ›Wecksel‹ nennt. Nur über Gewohnheitstäter, die mehrmals denselben Menschen umbringen, wird eine Haftstrafe verhängt. Als Kapitalverbrechen gelten hingegen die böswillige Entziehung psychemischer Mittel und die psychemische Einflußnahme auf Außenstehende ohne ihr Wissen und ohne ihre Einwilligung. Auf solche Weise ließe sich ja alles erreichen, was das Herz begehrt, z. B. eine testamentarische Verschreibung, Liebe und Gegenliebe, Beihilfe zu allen erdenklichen Plänen und Umtrieben, usw. Dieser Diskussion vor den laufenden Kameras konnte ich nur mit Mühe folgen. Erst gegen Ende kam ich dahinter, daß ›Haft‹ jetzt einen anderen Vorgang bezeichnet, als zu meiner Zeit. Der Verurteilte wird nirgends eingesperrt. Ihm wird lediglich ein feines Stützgeflecht um den Körper geheftet, eine Art Schnürleib aus schmiegsamen, aber starken Stäben. Dieses Skelettmäntelchen unterliegt ständiger Kontrolle von seiten eines in die Kleidung eingenähten Compjuristers, d. h. eines mikrominiaturisierten Gerichtsbarkeits-Computers. Der Mensch steht also unter dauernder Aufsicht, die ihn von vielen Tätigkeiten und von mancherlei Lebensgenüssen abhält. Der bislang fügsame Skelettmantel widersetzt sich dem Streben nach verbotenen Früchten. Beim Vorliegen besonders schwerer Straftaten wird der sogenannte Knaster verordnet. Jedem Diskussionsteilnehmer stand sein Name nebst dem wissenschaftlichen Grad auf der Stirn geschrieben. Gewiß erleichtert dies die Verständigung; dennoch sieht es recht komisch aus. 1.9.2039. Ein unerquickliches Erlebnis. Heute nachmittag schaltete ich den Kunstdinger ab und wollte mich umziehen, weil ich mit Aileen verabredet war. Doch anstatt wie das restliche Dingbild zu verschwinden, blieb ein zwei Meter langer Kerl zurück, der mir von Anfang an nicht recht ins dargebotene Dingspiel (»Erbtanzes Schlafblattern«) gepaßt hatte, halb Weidenbaum und halb Athlet, mit knorriger, verbogener, bräunlich blaßgrün getönter Fresse. Er näherte sich meinem Lehnstuhl, nahm die Blumen vom Tisch, die ich für Aileen vorbereitet hatte, und zerquetschte sie alle auf meinem Kopf. Ich war so entgeistert, daß ich keinerlei Gegenwehr versuchte. Der Kerl schlug die Vase entzwei, verschüttete das Wasser, aß eine halbe Schachtel Käsburger, streute den Rest auf den Teppich, trampelte darauf herum, blähte sich, leuchtete auf und zerstob wie ein Feuerwerk in einen Regen von Funken, die in meine ausgebreiteten Hemden zahlreiche Löcher brannten. Mit blaugeschlagenen Augen und zerschundenem Gesicht erschien ich trotz allem zum Stelldichein. Aileen wußte gleich Bescheid. »Um Himmels willen« – rief sie, als sie mich erblickte – »du hast einen Interferenten gehabt!« Wenn zwei von verschiedenen Sendern ausgestrahlte Programme einander lange Zeit hindurch überlagern, dann kann ein Interferent entstehen, ein Mischling, eine Kreuzung zwischen mehreren Dramengestalten oder sonstigen Personen, die in Dingsendungen auftreten. Ein solcher Bastard ist durchaus kompakt und kann scheußliche Bescherungen anrichten, da er nach dem Ausschalten des Apparats bis zu drei Minuten lang fortdauert. Die Energie, die einem solchen Phantom Bestand verleiht, steht angeblich auf demselben Blatt wie die Energie der Kugelblitze. Eine Freundin Aileens hatte einmal einen Interferenten aus einem paläontologischen Programm, der mit dem Kaiser Nero verquickt war. Nur dank ihrer Kaltblütigkeit konnte sie sich retten: sie sprang stehenden Fußes in ihre mit Wasser gefüllte Badewanne. Das Wohn mußte jedoch renoviert werden. Jedes Wohn ließe sich zwar durch Abschirmung schützen, aber das ist ziemlich kostspielig. Prozesse und an die Teilnehmer ausbezahlter Schadenersatz kommen die Dinganstalten billiger zu stehen als etwa der lückenlose Schutz vor derartigen Zwischenfällen bei der Ausstrahlung. Ich habe beschlossen, beim Dingen künftighin einen dicken Knüppel in der Hand zu halten. Erbtanzes Schlafblattern sind übrigens nicht die Schlafblattern einer Erbtante, sondern die Bettgenossinnen eines Mannes, der aufgrund programmierter Erbänderungen meisterliche Kunstfertigkeit in den lateinamerikanischen Tänzen mit auf die Welt gebracht hat. 3. 9. 2039. Ich war bei meinem Anwalt. Er erwies mir die Ehre eines persönlichen Gesprächs. Derlei kommt selten vor; zumeist kümmern sich Büroboten um die Klienten. Doktor Crawley empfing mich in seinem Arbeitszimmer, das nach Art altehrwürdiger Barrister-Kanzleien eingerichtet ist;
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