Der futurologische Kongreß
untergeschobenen Klötzen ein gewöhnlicher Straßenbahnwagen. Unmenschliches Gedränge erfüllt ihn, Knöpfe reißen ab, Kleider und Strümpfe werden zerfetzt, Rippen krachen, alles trampelt und stampft. Auf so naturalistische Weise versetzen sich diese Altertumsfreunde in die Verhältnisse einer ihnen nicht beschiedenen Daseinsform. Die Gesellschaft ging sich anschließend stärken, ganz zerfranst und zerknautscht, doch beseligt und mit leuchtenden Augen. Ich aber hinkte aufgequetschten Füßen heimwärts, wobei ich die Hosen festhielt und trotz allem lächelnd über die naive Jugend nachdachte, der immer das Schwersterreichbare am reizvollsten und aufregendsten erscheint. Im übrigen lernt jetzt fast niemand Geschichte; die Schulen bieten statt dessen ein neues Fach namens Zukunde, die Lehre von dem, was erst in Zukunft geschehen wird. – Wie hätte sich Professor Trottelreiner über diese Neuigkeit gefreut! – dachte ich nicht ohne Wehmut. 9. 9. 2039. Mittagessen mit Dr. Crawley in dem kleinen italienischen Restaurant (»Bronx«), wo es weder Computer noch Roboter gibt. Ausgezeichneter Chianti. Der Küchenchef höchstselbst bediente uns; ich mußte Lob äußern, obwohl ich so riesige Teigberge nicht mag, nicht einmal mit Basiliskenkraut. Crawley, der Staranwalt, wie er im Buch steht, trauert der untergehenden Kunst des Plädierens nach. Beredsamkeit lohnt sich nicht mehr, seit das Urteil nach Strafpunkten errechnet wird. Das Verbrechertum ist doch nicht so ganz geschwunden, wie ich dachte; es hat sich eher unsichtbar gemacht. Die wichtigsten Straftaten sind Mindnapping (geistige Entführung), Bankraub in besonders hochwertig beschickten Spermabanken, Mord unter Geltendmachung des achten Verfassungsnachtrags (in der Wirklichkeit verübte, doch vom Täter für fiktiv gehaltene Tötung, z. B. in dem Glauben, das Opfer sei Teil einer Dingsendung oder Psychsendung), ferner zahllose Spielarten psychemischer Nötigung. Dem Mindnapping läßt sich schwer auf die Spur kommen. Durch ein entsprechendes Fertigpräparat wird das Opfer in eine fiktive Umwelt eingeführt. Es weiß nicht, daß es mit der Wirklichkeit keine Fühlung mehr hat. Eine gewisse Mrs. Wandager wollte ihren lästigen Mann loswerden, der für exotische Reisen schwärmte; sie erfreute ihn mit Gutscheinen für eine Fahrt in den Kongo nebst der Erlaubnis zur Großwildjagd. Mr. Wandager verbrachte etliche Monate mit ungewöhnlichen Jagdabenteuern, ohne zu ahnen, daß er die ganze Zeit hindurch in einem Kotter auf dem Dachboden feststak und dem Einfluß von Psychemikalien unterworfen war. Halten nicht Feuerwehrleute im Dachgeschoß einen Brand gelöscht und hierbei Herrn Wandager gefunden, so wäre er gewiß an der Auszehrung gestorben, die ihm wohlgemerkt ganz natürlich vorkam: er halluzinierte nämlich, er habe sich in der Wüste verirrt. Solcher Manöver bedient sich oft die Mafia. Vor Dr. Crawley hat sich ein Mafioso gebrüstet, innerhalb der letzten sechs Jahre in Kisten, Kottern, Hundehütten, Bodenkammern, Kellern und sonstigen Schlupfwinkeln in den Häusern hochachtbarer Familien mehr als viertausend Personen verstaut zu haben, alle in ähnlichem Zustand wie Mr. Wandager. Später kam das Gespräch auf das Familienleben des Anwalts. »Werter Herr!« – sagte er mit der schwungvollen Gestik, die ihn kennzeichnet »Sie sehen vor sich einen ernst zu nehmenden Verteidiger, einen angesehenen Vertreter des Advokatenstandes – aber einen unglücklichen Vater. Ich hatte zwei begabte Söhne …«
»Wie? Beide sind tot?« – staunte ich. Er schüttelte den Kopf. »Sie leben, aber sie sind Eskalierer!« Als Crawley merkte, daß ich ihn nicht verstand, erläuterte er mir das Scheitern seines Vaterstolzes. Der ältere Sohn war ein vielversprechender Architekt gewesen, der jüngere war Dichter. Aus Ungenügen an tatsächlichen Aufträgen verlegte sich ersterer auf Konstruktol und Urbaphantomat. Jetzt erbaut er ganze Städte – in der Einbildung. Ähnlich verlief die Eskalation beim jüngeren: Lyratran, Poesin, Sonettal … Statt Werke zu schaffen, widmet er sich nun dem Verzehr von Fertigpräparaten – auch er verloren für die Well. »Ja wovon leben dann die beiden?« – fragte ich. »Wovon? Drollige Frage! Ich muß sie ernähren!«
»Und es gibt keine Abhilfe?«
»Träumereien siegen immer über das Wirkliche, wenn sie dazu Gelegenheit erhalten. Die Psivilisation fordert ihren Zoll. Jedermann kennt diese Versuchung. Gesetzt, ich soll einen aussichtslosen
Weitere Kostenlose Bücher