Der Gamma-Stoff
Wachtposten an der vergitterten Tür zur Experimentierstation hielt ihn auf. »Ich sehe hier nirgends Ihren Namen«, brummte er, während sein Finger wieder über die Liste glitt.
»Kein Wunder«, sagte Flowers und deutete auf einen Namen. »Er ist falsch geschrieben. Powers statt Flowers.«
Es klappte. Er hastete an der Blutbank mit ihren Reihen lebender Fabriken, der Organbank mit ihren Chirurgie- und automatischen Herzmaschinen vorbei.
Der für die Geriatrie bestimmte Teil der Station lag am Ende des Baues.
Dr. Pearce lag bewegungslos auf dem Krankenbett. Flowers schüttelte ihn, aber die dunklen Lider bewegten sich nicht. Er füllte eine Injektionsspritze aus der Ampulle in seiner Jackettasche und spritzte das Mittel ein.
Er wartete besorgt im Halbdunkel. Endlich zuckten Dr. Pearces Lider.
»Dr. Pearce«, flüsterte er. »Ich bin es, der Besuchsarzt. Erinnern Sie sich?«
Pearce nickte.
»Ich versuche, Sie hier herauszuholen, Sie und Leah. Sie ist auch hier. Wollen Sie mir helfen?«
Pearce nickte wieder.
Flowers schob den langen Wagen neben das Bett und hob Pearces leichten Körper hinauf. Er zog ein Tuch über das Gesicht.
»Es geht los.«
Er legte den Gang ein und steuerte den Wagen auf den Korridor hinaus, vorbei an den Zimmern mit ihrer Last menschlicher Tragödien, durch die Tür, vorbei an dem überraschten Wachposten. Der Mann schien etwas sagen zu wollen, aber er wartete zu lange.
Als sie in den Aufzug fuhren, flüsterte Pearce: »Was haben Sie mir gespritzt?«
»Elixier vitae. Ist es nicht gerecht?«
»Wir bekommen das selten.«
»Wann haben Sie die letzte Spritze bekommen?«
»Vor sechzig Jahren.«
Also habe ich mich auch hier geirrt, dachte Flowers. Es war nicht das Elixier, das den alten Mann am Leben hielt.
»Sie haben gesagt, daß Sie Leah Ihre Augen geben wollten. War das Ihr Ernst?«
»Ja. Können Sie das?«
Die Jahre hatten den Körper zerstört, aber der Geist war frisch wie eh und je, dachte Flowers. Pearce hatte sofort begriffen, was Flowers meinte.
»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Es ist eine Chance. Ich muß es allein tun und eilig. Ich könnte ihr auch ein Transplantat aus der Organbank geben, aber das wäre ihr nicht recht. Bei Ihren Augen ist das etwas anderes.«
»Ein Geschenk der Liebe«, flüsterte Pearce. »Man kann es nicht ablehnen. Es bereichert denjenigen, der gibt, und den, der empfängt. So sollte es immer gegeben werden, mit Liebe. Sagen Sie es ihr nicht. Später wird sie es verstehen, daß es mich glücklich gemacht hat, ihr zu geben, was ich ihr als Vater nicht geben konnte – eine lichte Welt …«
Das Verwaltungsbüro war leer. Flowers suchte in den Listen, bis er Leahs Namen fand. Er holte einen zweiten Wagen, rollte ihn in das Zimmer und blieb neben dem Bett stehen.
»Leah?«
»Ben?« sagte sie sofort.
Für einen Augenblick beirrte das seine kalte Entschlossenheit. Es war lange her, seit ihn jemand so ›Ben‹ gerufen hatte.
»Schnell auf den Wagen. Ich habe Ihren Vater. Wir riskieren die Flucht.«
»Sie sind ruiniert!«
»Das ist schon geschehen. Komisch – man hat ein Ideal, vielleicht sieht es aus wie dein Vater – und man glaubt, daß es in einem existiert, wie eine Marmorstatue in einer verborgenen Nische. Eines Tages schaut man hin, und es ist nicht mehr vorhanden. Man ist frei.«
Der Wagen rollte auf den Lift zu. Im Stockwerk darunter steuerte er den Wagen in den Operationsraum. Als er sanft gegen den Wagen stieß, auf dem Pearce lag, streckte Leah die Hand aus, berührte den Arm ihres Vaters und sagte: »Russ!«
»Leah!«
Für eine Sekunde spürte Flowers, wie die Eifersucht in ihm aufwallte. Er kam sich ausgestoßen und allein vor.
»Du hast recht gehabt«, sagte Leah und streckte die andere Hand aus und zog Flowers heran. »Er ist der Richtige. Besser noch als wir glaubten.«
»Hoffentlich seid ihr glücklich, Kinder«, sagte Pearce.
Flowers lachte. »Ich glaube, ihr zwei habt das Ganze geplant.«
Leah wurde rot. Sie ist wirklich wunderschön, dachte Flowers in plötzlicher Überraschung.
»Nein, wir haben es nur gehofft«, sagte sie.
Flowers injizierte das Narkosemittel, fühlte, wie ihre Finger erschlafften, ihre Hand nach unten sank. Regungslos starrte er ihr Gesicht an, dann hob er die Hände vor die Augen. Sie zitterten.
Er starrte das schimmernde Weiß der Wände, die mikrochirurgischen Instrumente, die Wundnahtmaschine, die Verbände an und wußte, wie leicht es sein würde, den entscheidenden Fehler zu
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