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Der Gamma-Stoff

Der Gamma-Stoff

Titel: Der Gamma-Stoff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Gunn
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begehen.
    »Nur Mut«, sagte Pearce. Seine Stimme wurde kräftiger. »Sie haben sieben Jahre lang studiert. Sie schaffen diese einfache Operation.«
    Er atmete tief ein. Ja, er konnte es schaffen. Und er machte sich daran, wie es sein sollte – mit Liebe.
    »Flowers«, sagte der verborgene Lautsprecher in der Decke. »Melden Sie sich im Wohnsaal. Flowers …«
    Man hatte entdeckt, daß Pearce verschwunden war. Der alte Mann sprach mit ihm, während seine Hände beschäftigt waren, und half ihm dabei, die Gedanken an die schrecklichen Konsequenzen zu verbannen. Er erzählte Flowers, warum er vor sechzig Jahren den Hörsaal verlassen hatte.
    »Mit einem Male begriff ich die Ähnlichkeit zwischen Medizin und Religion. Wir haben sie gefördert, mit unserer Traditionsbewahrung, unseren unentzifferbaren Rezepten, unserem Ritual. Stufenweise war die Öffentlichkeit dazu gelangt, uns als Zauberer anzusehen. Die Massen nannten die neuen Medikamente Wunderdrogen, weil sie nicht wußten, wie sie wirkten. Religion und Medizin – beide danken ihre große Zeit einer pathologischen Todesfurcht. Ein so großer Feind ist er nicht.«
    Flowers stellte Tiefenmessungen der bewölkten Hornhäute an und stellte sie auf der Mikrochiurgiemaschine ein. »Die Ärzte traf keine Schuld. Wir waren ein Produkt unserer Gesellschaft wie John Bone ein Produkt der seinigen ist. Aber wir haben eine alte Weisheit vergessen, die uns die Stärke zum Widerstand verliehen hätte: ›Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper‹, sagten die Griechen. Und was noch wichtiger ist: ›Nichts im Übermaß‹.«
    Flowers richtete das blitzende Skalpell auf Leahs rechtes Auge.
    »Alles, was Übermaß erreicht, wird diese Gesellschaft wie jede andere zerstören. Auch wenn es aus positiven Dingen entsteht – zuviel Reichtum, zuviel Frömmigkeit, zuviel Gesundheit. Wir haben aus der Gesundheit einen Fetisch gemacht, unsere Medizinschränke zu Schreinen werden lassen, große Tempel für die Anbetung gebaut.«
    Flowers arbeitete sehr sicher und löste mit dem Skalpell die Hornhaut heraus.
    »Die Lebensdauer kann ohne Überbelastung der Gesellschaft auf ein vernünftiges Maß ausgedehnt werden. Dann tritt das Gesetz des abnehmenden Ertrags in Kraft, und es kostet doppelt soviel, die Lebenserwartung um ein weiteres Jahr hinauszuschieben, dann immer mehr, um sie nur 6 Monate, 3 Monate, 1 Woche, 1 Tag zu verlängern. Es gibt kein Ende, und unsere Angst ist so groß, daß niemand zu sagen wagt: ›Halt! Wir sind gesund genug!‹«
    Das Skalpell wich zurück und schwenkte zum linken Auge.
    »Das Leben, das wir zu bewahren vermochten, lag an der Peripherie: die ganz Jungen, die ganz Alten und die von der Konstitution her unzureichend ausgestatteten. Wir haben die natürliche Zuchtauswahl mißachtet und die Schwachen gerettet, damit sie sich vermehren konnten. Dann haben wir uns vorgesagt, daß wir gesünder seien. In gewisser Weise war das eine Art Selbstmord. Es war Gesundheit, auf Flaschen gezogen. Wenn die Flaschen zersplittern, stürzt die Gesellschaft.«
    Beide Hornhäute waren abgelöst. Flowers schaute auf die Uhr. Es dauerte zu lange. Er wandte sich Pearce zu.
    »Kein Narkosemittel«, sagte Pearce. Als die Mikrochirurgiemaschine sich auf sein Gesicht richtete, fuhr er fort: »Wir haben von Humanität gesprochen, aber das war nur ein anderer Name für Narrheit. Die Medizin wurde abhängig von dem, was sie zerstörte. Zu ihrer Erhaltung erwiesen sich gewaltige Technologien als notwendig, aber dieses Niveau der Zivilisation erzeugte seine eigenen Krankheiten.«
    Die leeren Höhlen waren verbunden.
    »Wir haben mit unserem Unheilgeschrei die Städte vernichtet und mit unseren Abschreibungen, unseren Subventionen, unseren Forschungsbeiträgen eine unverhältnismäßig große Menge Kapital angesammelt. Wieder die Analogie zur Religion im mittelalterlichen Europa, als die Frömmigkeit infolge der Steuerbefreiung Reichtum aufhäufte.«
    Die Hornhäute waren übertragen.
    »Das konnte in Europa nicht andauern, und es wird hier nicht andauern. Heinrich der Achte suchte eine Ausrede, um mit dem Papst zu brechen und sich die Ländereien der Kirche einzuverleiben. In Frankreich trugen diese Dinge mit zur Entstehung der Revolution bei. Und so wird dieses noble Experiment zu Ende gehen. In Eis oder Feuer, durch die Degeneration der Technologie unter das erforderliche Niveau oder durch Rebellion. Deswegen bin ich in die Stadt zurückgekehrt.«
    Die Wundnahtmaschine trieb ihre

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