Der Gamma-Stoff
er sich kümmern mußte; er brauchte Hilfe.
Allerdings zwang ihn die Ehrlichkeit zu dem Eingeständnis, daß er es gewesen war, nicht Christopher oder Pearce, der vorhin Hilfe brauchen konnte. Wenn sie sich auf ihn verlassen hätten, wären sie bereits alle tot oder ihre Körper wären auf dem Weg zu einer Organbank.
»Christopher muß bei einem flüchtigen Schuldner in die Lehre gegangen sein«, sagte Harry zu Pearce.
Pearce nahm die Bemerkung für das, was sie war, ein Kompliment und eine Entschuldigung.
»Man lernt in der Stadt sehr früh, sich vorzusehen«, flüsterte er. »Sie sind verletzt.«
Harry zuckte zusammen. Woher wußte der alte Mann das? In der Dunkelheit konnte man nur Silhouetten erkennen. Harry faßte sich. Vielleicht war es ein Instinkt. Er hatte gehört, daß manche Diagnostiker einen sechsten Sinn erwarben, nach jahrelanger Tätigkeit. Sie konnten die Krankheit erspüren, bevor sich der Patient auf das Sofa legte. Die Geräte lieferten ihnen nur die Bestätigung. Oder vielleicht war es noch einfacher. Vielleicht roch der alte Mann das Blut, weil sich sein Geruchssinn als Ausgleich für die Blindheit verfeinert hatte.
Die Finger des Alten berührten seinen Arm mit erstaunlicher Sanftheit. Harry machte sich los.
»Es ist nur ein Kratzer.«
Pearces Finger griffen wieder nach seinem Arm.
»Er blutet. Sucht trockenes Gras.«
Marna war ganz nah. Sie hatte eine überraschte Bewegung gemacht, als Pearce die Wunde entdeckte. Harry vermochte darin kein Mitgefühl zu sehen; ihr Haß war allzu offensichtlich. Vielleicht fragte sie sich, was sie tun sollte, wenn er ums Leben kam. Pearce riß den Ärmel ab.
»Hier ist das Gras, Opa«, sagte Christopher. Wie konnte der Junge im Dunkeln trockenes Gras finden?
»Das tut ihr mir nicht auf die Wunde!« sagte Harry schnell.
»Es stillt die Blutung«, flüsterte Pearce.
»Aber die Bakterien –«
»Bakterien tun Ihnen nichts – wenn Sie nicht wollen.«
Er legte das Gras auf die Wunde und band es mit dem Ärmel fest. »Es wird bald besser werden.«
Harry nahm sich vor, den Verband abzunehmen, sobald sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten. Irgendwie schien es aber einfacher zu sein, die Finger davon zu lassen. Später vergaß er die Wunde.
Als sie weitergingen, fand sich Harry neben Marna.
»Sie haben wohl auch Ihre Ausbildung damit begonnen, daß Sie in der Stadt vor den Gesundheitsinspektoren davonliefen?« meinte er trocken.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein. Seit ich mich erinnern kann, habe ich versucht zu entfliehen. Einmal gelang es mir.« Ihre Stimme klang glücklich. »Ich war vierundzwanzig Stunden lang frei, dann haben sie mich gefunden.«
»Aber ich dachte –«, begann Harry. »Wer sind Sie eigentlich?«
»Ich? Die Tochter des Gouverneurs.«
Harry zuckte zusammen. Nicht so sehr die Tatsache beeindruckte ihn, als vielmehr die Bitterkeit, die aus ihrer Stimme herauszuhören war.
4.
Bei Sonnenaufgang hatten sie das letzte zerfallene Motel hinter sich. Zu beiden Seiten der Autostraße zeigten sich sanft ansteigende grasbewachsene Hügel, bewaldete Täler, und neben ihnen schlängelte sich der schmutziggraue Fluß dahin, manchmal so nah, daß sie einen Stein hätten hineinwerfen können.
Es war warm. Am blauen Himmel standen nur wenige weiße Wölkchen. Ab und zu hoppelte ein Hase vor ihnen über die Straße und verschwand auf der anderen Seite im Unterholz. Einmal sahen sie ein Reh den Kopf heben und sie vom Fluß her neugierig beäugen.
Harry sah hungrig hinüber.
»Dr. Elliott«, sagte Christopher. Harry sah ihn an. Der Junge hatte einen Klumpen aus festem, braunen Zucker in der Hand. Er zeigte Spuren von Schmutz, aber im Augenblick konnte sich Harry nichts Begehrenswerteres vorstellen. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und er schluckte.
»Gib es Pearce und dem Mädchen. Sie brauchen ihre Kraft. Du auch.«
»Nehmen Sie nur«, sagte Christopher. »Ich hab’ noch mehr.« Er zeigte ihm drei andere Stücke. Je eines gab er Marna und Pearce. Der alte Mann biß mit seinen Stummeln hinein, die von seinen Zähnen verblieben waren.
Harry zupfte die gröbsten Schmutzteilchen weg, dann konnte er seinen Hunger nicht mehr bezähmen. Selten hatte er ein Frühstück so genossen.
Sie wanderten weiter, nicht schnell, aber stetig. Pearce klagte nie. Er zwang seine gekrümmten alten Beine dazu, weiterzustolpern, und Harry gab es auf, ihn anzutreiben.
Sie kamen an einer Hydroponikfarm vorbei, an die eine automatische
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