Der Gamma-Stoff
geplagt, in denen er Operationen vornahm, zum Beispiel eine lange und schwierige Lungenresektion. Die Steuerorgane der Mikrochirurgiemaschine entglitten seinen schwitzenden Fingern. Die Patientin richtete sich auf dem Operationstisch auf. Es war Marna. Sie begann ihn durch lange Krankenhauskorridore zu verfolgen.
Die Lampen über seinem Kopf waren in immer größer werdenden Abständen angebracht, bis Harry in völliger Dunkelheit durch warmes, klebriges Blut hastete, das höher und höher stieg und endlich über seinem Kopf zusammenschlug.
Harry erwachte nach Luft ringend, gegen das ankämpfend, das ihn völlig einhüllte. In der Nähe hörte er ein Scharren. Irgend etwas zischte und knisterte. Jemand fluchte.
Harry wehrte sich vergebens. Etwas riß auseinander. Noch einmal. Harry erhaschte eine Spur von Dämmerung, quälte sich ihr entgegen und kam endlich durch einen langen Schlitz in der straffgespannten Decke heraus, die auf allen vier Seiten über das Bett gezogen worden war.
»Schnell«, sagte Christopher und klappte sein Taschenmesser zusammen. Er eilte zur Tür, wo Pearce bereits geduldig wartete.
Marna hob ein metallenes Tischbein auf, das sie abgeschraubt hatten. Christopher zog den Stuhl unter der Türklinke hervor und öffnete lautlos. Er führte Pearce hinaus, Marna folgte. Harry ging ihr wie von einem Traum befangen nach.
In Kabine vierzehn schrie jemand auf. Ein bläulicher Blitz zuckte hoch. Ein Körper stürzte zu Boden.
Marna lief voraus zum Tor. Sie stellte das Tischbein mit der Spitze auf den Boden und ließ es gegen den Zaun fallen. Der Zaun spuckte blaue Flammen, die knisternd am Tischbein entlangliefen. Das Bein glühte rötlich auf und knickte ein. Dann erloschen alle Lichter, auch das Leuchtzeichen über ihnen und die Lampe am Tor.
»Helft mir!« keuchte Marna.
Sie versuchte, das Tor hochzustemmen. Harry griff zu und hob das Tor an. Es bewegte sich einen halben Meter, dann klemmte es. Oben zwischen den Kabinen schrie jemand heiser. Harry nahm seine ganze Kraft zusammen. Das Tor rollte hoch. Er hielt es fest, während Marna hinausschlüpfte, dann Pearce und der Junge. Harry zwängte sich langsam hindurch und ließ das Tor herunterrasseln. Einen Augenblick später wurde der Strom wieder eingeschaltet. Das Tischbein schmolz und fiel durch den Zaun.
Harry schaute sich um. Ein motorisierter Rollstuhl kam auf sie zu. Er enthielt etwas Klumpiges, Monströses, ein alptraumhaftes Ungeheuer, bis Harry erkannte, was es war: ein vierfach Amputierter, der noch dazu an einer schweren Herzkrankheit litt. Eine Herz-Lungen-Maschine war an der Lehne des Rollstuhls befestigt, gleich einem zweiten Schädel. Dahinter hüpfte eine knochige, vogelscheuchenartige Gestalt mit langem Haar. Sie trug ein Kleid, als handle es sich um eine Frau …
Harry sah fasziniert zu, als der Rollstuhl neben einem der Maschinengewehre hielt. Drähte glitten aus den Armlehnen gleich Schlangen, bohrten sich in Bedienungsorgane. Das Maschinengewehr begann zu rattern. An Harrys Ärmel fetzte etwas vorbei.
Der Bann war gebrochen. Er drehte sich um und stürmte in die Dunkelheit. Eine halbe Stunde später hatte er sich verirrt. Marna, Pearce und der Junge waren verschwunden. Alles, was ihm blieb, waren ein erschöpfter Körper, ein Brennen im Arm und ein Handgelenk, das ihm höllische Schmerzen verursachte.
Er betastete den Oberarm. Der Ärmel war feucht. Er führte die Finger an die Nase. Blut. Die Kugel hatte ihn gestreift.
Er saß erschöpft am Rand der Straße in der Dunkelheit. Er sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Drei Uhr zwanzig. Noch zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang. Er seufzte und versuchte, den Schmerz in seinem Handgelenk zu lindern, indem er die Haut rings um den Reif massierte. Das schien zu helfen. Ein paar Minuten später spürte er nur noch ein Prickeln.
»Dr. Elliott«, sagte jemand leise.
Er drehte sich um. Erleichterung und fast so etwas wie Freude durchflutete ihn. Als schwache Silhouetten gegen das trübe Sternenlicht konturiert, standen Christopher, Marna und Pearce.
»Na«, sagte Harry brummig. »Ich bin froh, daß ihr nicht versucht habt, zu entfliehen.«
»Das würden wir nicht tun«, meinte Christopher.
»Wie habt ihr mich gefunden?« fragte Harry.
Marna hob stumm den Arm.
Der Reif. Natürlich. Er hatte ihnen zuviel zugetraut, dachte Harry mürrisch. Marna war nur gekommen, weil sie nicht anders konnte, und Christopher, weil er hier draußen allein mit einem uralten Mann war, um den
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